3. Januar 2019 1 Likes

Folge dem weißen Kaninchen

„Black Mirror: Bandersnatch“: Interaktives Heimkino im SF-Gewand

Lesezeit: 4 min.

Ob Alice einst wirklich vor einer Wahl stand, dem weißen Kaninchen ins Wunderland zu folgen, bleibt fraglich. Dass dadurch jedoch Lewis Carroll die eindeutig interessantere Geschichte erzählt, als wenn sie sich entschieden hätte, einfach am Flussufer sitzen zu bleiben, scheint für uns alle ersichtlich. Und in ganz ähnlicher Manier eröffnen sich die großen Stärken und auch Schwächen des neuen interaktiven Thrillers „Bandersnatch“ aus dem Universum der Anthologie-Serie „Black Mirror“, der seit dem 28. Dezember 2018 exklusiv auf dem Streamingdienst Netflix einzusehen ist.

Bei „Bandersnatch“ handelt es sich um die (bereits zuvor gemunkelte) interaktive Episode, die jedoch losgelöst von der noch kommenden, fünften Staffel von „Black Mirror“ veröffentlicht wurde. Ähnlich wie seinerzeit das Weihnachts-Special im Jahre 2014. Hierbei handelt es sich jedoch um einen „Wähle deinen eigenen Pfad“-Film, der dem Zuschauer per Knopf- oder Druck auf den Touchscreen das weitere Geschehen des Films nach eigenem Gutdünken beeinflussen lässt. Das bis zu 90 Minuten andauernde Abenteuer bietet etliche Entscheidungsmöglichkeiten bei Schlüsselsequenzen, die von der simplen Wahl des Frühstücks oder der im Film spielenden Musik reichen, bis zu weit folgenschwereren Pfaden. Der Plot dreht sich um Stefan Butler (Fionn Whitehead), ein aufstrebender Videospielentwickler im Jahre 1984, der nach Vorbild des fiktiven Fantasyromans Bandersnatch ein eigenes „Choose your own adventure“-Spiel entwickeln will. Hiermit weckt er das Interesse des Software-Entwicklers Tuckersoft und eines seiner großen Idole und Entwickler der Firma, Colin Ritman (Will Poulter). Auf Ritmans Drängen hin wird Stefan jedoch schnell klar, dass bei Tuckersoft – und der Welt im Allgemeinen – nicht alles so ist, wie es den Anschein hat, und Stefan fällt immer tiefer in den Kaninchenbau um eine große Verschwörung herum hinein.

„Bandersnatch“ wartet, wie bei „Black Mirror“ üblich, mit einer glaubhaft-begeisternden Performance aller Schauspieler auf, cleveren Twists, noch größeren Ideen und einem überraschend ausuferndem Umfang. Für die große Masse an Zuschauern wird „Bandersnatch“ wohl ein einzigartiges Erlebnis sein, das bleibenden Eindruck hinterlässt, und Serienerfinder Charlie Brooker sowie Regisseur David Slade ist es erneut gelungen, das Medium Fernsehen ein Stück weiterzuentwickeln. Ebenso fühlen sich alle der fünf „erspielbaren“ Enden verdient an und bringen, manchmal sogar auf sehr humoristische und trotzdem gewohnt verstörende Art und Weise, die Geschichte um Stefan Butler zu Ende. Keines der Enden fühlt sich erzwungen oder minderwertiger den anderen gegenüber an. Somit lädt „Bandersnatch“ auch zum mehrfachen „gucken“ ein und bietet immer noch unerwartete Twists und Unterhaltung an. Gerade in der Gamer-Fraktion unter den Zuschauern sollten aber jetzt gewohnte Gefühle hervorbrechen, denn „Bandersnatch“ fühlt sich in vielerlei Hinsicht ähnlich an wie aktuelle Spiele von Entwickler Quantic Dream oder auch dem insolventen Telltale Games, die nach dem gleichen Schema funktionieren. Bietet jedoch nur einen vorgegaukelten Tiefgang an, anders als beispielsweise der PS4-Sci-fi-Hit „Detroit: Become Human“.

Und hier wird das Garn um „Bandersnatch“ herum entwirrt und die vielen, kleinen losen Fäden werden sichtbar. Denn wer  bereits etliche Stunden mit Spielen wie „Detroit“ oder „Heavy Rain“ verbracht hat, weiß, wie der Hase läuft. Herrn Brooker und seinen Teamgefährten ist natürlich klar, wie die große Allgemeinheit der Zuschauer entscheiden wird, denn sie wollen eine gute Geschichte hören. So wird schnell deutlich, dass bei vielen Zweigstellen eine der beiden Wahlmöglichkeiten die bevorzugte ist, und bei anderer Wahl – natürlich mit einem Augenzwinkern in der Geschichte verpackt – mit einer Wiederholung der Zuschauer erneut vor die Wahl gestellt wird, um dann den „richtigen“ Pfad zu nehmen. In manchen Fällen wird dem Zuschauer auch bloß eine Entscheidung vorgegaukelt und die Wahlmöglichkeiten sind quasi dasselbe Ergebnis, bloß in anderen Worthülsen verpackt. Diese Schwächen werden jedoch zumindest zum Teil in der Geschichte selbst relativiert, da diese „Fehlentscheidungen“ auf ein clevereres Konstrukt dahinter blicken lassen, und trotzdem nichts von der Spannung wegnehmen. Die wirklich gewichtigen Abzweigungen im Pfad lassen sich aber erst nach gut über einer Stunde erspähen und führen dann auch, wie bereits erwähnt, zu jeweils zufriedenstellenden Enden der Geschichte. Darüber hinaus hält „Bandersnatch“ jedoch noch ein äußerst ausgeklügeltes, verstecktes Ende bereit, das weitere Eastereggs enthält und nach etwas technischer Fleißarbeit im echten Leben zu einer versteckten Website führt.

„Bandersnatch“ lässt sich per Fernbedienung auf jedem aktuell gängigen Smart-TV, per Controller auf aktuellen Konsolen oder per Touchscreen auf gängigen Tablets und Smartphones steuern und sollte für jeden zumindest in irgendeiner Form genießbar sein. Aufgrund der Komplexität und der aufwändigen Dreharbeiten wird sich die fünfte Staffel von „Black Mirror“ etwas verspäten, wie Charlie Brooker bereits bekannt gab. Netflix versicherte jedoch bereits, dass sie noch 2019 das Licht der Welt erblicken wird.

„Black Mirror: Bandersnatch“ ist seit dem 28. Dezember 2018 exklusiv auf dem Streaming-Dienst Netflix erhältlich.

Black Mirror: Bandersnatch • Großbritannien/USA 2018 • Regie: David Slade • Darsteller: Fionn Whitehead, Will Poulter, Craig Parkinson, Alice Lowe, u.v.m.

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