18. August 2018 2 Likes

Fragile Dystopie

Daedalics Sci-Fi-Adventure „State of Mind“ lotet subtil die Grenzen virtueller Identitäten aus

Lesezeit: 7 min.

Der Titel lässt Großes anklingen. Wenn es um das Bewusstsein und dessen Zustand im Rahmen einer Science-Fiction geht, weckt State of Mind zwangsweise Assoziationen zu meist recht düsteren Dystopien a la Matrix, The Cell, Oblivion oder im Game-Bereich zuletzt Detroit: Become Human. Mit der Opulenz all der genannten Namen, kann diese Produktion mangels ähnlich großem Budget nicht dienen.

Doch was Daedalics frisch für PS4, Xbox One, Switch und PC veröffentlichtes Adventure ähnlich gut und in manchen Momenten sogar besser als viele Beiträge zum Thema Bewusstsein und Zukunft hinbekommt, ist eine klare Fokussierung auf Story und Setting, die beide Elemente sehr stimmig miteinander kombiniert.

Oder anders gesagt: State of Mind nimmt sein tiefgründiges Thema einer möglichen transhumanen Gesellschaft jenseits fester biologischer Körperlichkeit jederzeit ernst und klatscht uns nicht nur einen Plot mit schönen Bildern hin, der sich bei genauerer Betrachtung in Luft auflöst.

Doch dieser Fokus hat in mancher Hinsicht wiederum seinen Preis und so ist dieses gut 12 bis 13 Stunden dauernde Spielerlebnis nicht jedem Gamer (selbst mit ausgeprägtem Sci-Fi-Faible) ohne Einschränkungen ans Herz zu legen. Dass dem so ist, liegt hauptsächlich paradoxerweise daran, dass Daedalic die Vorzüge von State of Mind konsequent nach vorne rückt, wohingegen speziell das Gameplay gerade deswegen sehr reduziert ausfällt.

Im Zentrum der Story steht der Journalist Richard Nolan, der im Berlin des Jahres 2048 für ein bekanntes Nachrichtenportal arbeitet und dort vor allem mit seinen kritischen Arbeiten über den aktuellen Stand der selbst in den eigenen vier Wänden allgegenwärtigen Überwachungs- und Androidentechnologie eine gewisse Berühmtheit unter der Leserschaft erlangte.

Nolan lebt zusammen mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn in einer großzügig ausgestatteten Wohnung weit oberhalb des Trubels der Stadt. Nachdem er eines Tages einen äußerst ungewöhnlichen Verkehrsunfall hatte, scheint seine Familie allerdings plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.

Richard begibt sich auf die Suche und findet schon bald erste Spuren, die ihn jedoch immer tiefer in eine groß angelegte Verschwörung hineinziehen und ein neues Licht nicht nur auf sein eigenes Familienleben werfen. Denn in den aufgezeichneten Datensätzen weltumspannender Konzerne, oder auch eines jeden Home Service-Bots, können sich unschöne Geheimnisse nicht wirklich verborgen halten.

Um nur eines davon zu nennen: Die Existenz einer zweiten, komplett virtuellen Welt namens City 5 – ein Utopia, in das sich ausgewählte Menschen hochladen lassen können oder sogar gegen ihren Willen übertragen werden. Als Richard dann auch auf einen gewissen Adam stößt, scheint selbst sein eigener Existenzstatus prekär.

Ganz wie ein Journalist sammeln wir mit Richard mittels Dialogen, Notizen, Daten oder einfachen Beobachtungen Hinweise, die wir dann in speziellen Recherche-Abschnitten zu weiterführenden Hinweisen verknüpfen. Wie alle der insgesamt sechs im Verlauf des Abenteuers spielbaren Charaktere, steuern wir Richard aus klassischer Third-Person-Sicht und haben weder Waffen noch sonstige direkt einsetzbare Gadgets im Gepäck.

Zwar gibt es ein kleines Inventarsystem, doch selbst gegen Ende des Games findet sich dort nur selten etwas und so ist unser einziges Standardtool eigentlich nur unser visueller Kommunikator, mit dem wir jederzeit andere Charaktere anrufen und buchstäblich (virtuell) von Angesicht zu Angesicht mit ihnen sprechen können.

So durchstreifen wir zunächst Berlin, wobei sich die Anzahl der Schauplätze speziell in den ersten Stunden auf insgesamt überschaubar wenige wie Wohnungen, Arbeitsplatz, Klinik oder Vorplätze erstreckt. Im Verlauf des Abenteuers wechseln wir wie bereits angedeutet mehrfach die Figur (manchmal sind wir auch zu zweit inklusive optionalem Wechsel unterwegs) und erhalten Einblicke in die Vergangenheit Richards oder auch in die komplett digitalisierte VR-Welt City 5, die im Zentrum der Verschwörung steht.

Die einzelnen Kapitel des Adventures fallen sehr kurz aus, sodass wir auch ohne manuelle Speicheroption nie viel erneut spielen müssen, sollten wir pausieren. Ein echtes Scheitern ist übrigens nicht vorgesehen und richtige Action oder Kämpfe gibt es trotz der Thriller-Story ebenso wenig wie komplexe Rätsel.

Hier kommt nämlich die kleine Crux innerhalb eines Gameplays ins Spiel, das sich neben der Erkundung der Settings und der Dialoge nur in Form von Minispielen richtig bemerkbar macht. Gerade in den ersten Spielstunden wird man dank deren Einfachheit praktisch null gefordert, weshalb jeder State of Mind selbst ohne Adventure- oder überhaupt irgendeiner Spielerfahrung problemlos genießen kann.

Wenn wir beispielsweise im späteren Verlauf mittels Transportdrohne Kisten als Sichtschutz vor Überwachungskameras stellen müssen oder in einem alten U-Bahn-System Weichen umschalten, so fallen diese Abschnitte so kompakt aus, dass nie Frust aufkommen kann. Das ist ein Vorteil der wenigen und nicht gerade weitläufigen Areale, in denen Aktionsoptionen jederzeit gut sichtbar mithilfe von Pfeilen markiert sind. Orientierungsprobleme sind also ebenfalls nahezu ausgeschlossen.

Wie aus diesen Ausführungen sicher ersichtlich wird, ist State of Mind eben nicht unbedingt für Leute geeignet, für die Gameplay-Vielfalt auf der Checkliste ganz oben steht. Hier wird kein Charakter mit weiteren Skills aufgewertet, kein Lebensbalken durch Angriffe verkürzt, keine schnelle Reaktion oder viel Knobelei gefordert. Wir haben es hier ganz klar mit einem Story-Adventure zu tun, das ähnlich wie die vergleichbaren Telltale-Games den Geschichten- und Atmosphärefan anspricht.

Was man aber den Entwicklern zugutehalten muss, ist der bedachte Einsatz sowie die Naturalisierung der Minispiele und Rätsel innerhalb der Handlung. Sprich: Kaum eine Aufgabe wiederholt sich und fast jede ist stimmig in den Ablauf der Story integriert, ohne aufgesetzt zu wirken oder – wie bei so vielen Games – einfach nur Zeit zu schinden. Kompliment für so viel Feingefühl.

Und genau das gelingt den Machern um Autor Martin Ganteföhr auch beim Storytelling ganz hervorragend, wenn man sich wirklich auf die Thematik einlässt und dem sich subtil aufbauenden Plot Zeit zum Atmen und Aufblühen gibt. Richard ist weder sonderlich sympathisch noch sind die meisten anderen Figuren klar einordbar. Dialoge und eigenes Erkunden fließen wunderbar ineinander.

Wenn wir uns etwa durch die Settings wie die Wohnungen bewegen, verraten uns kleine Details beim Mobiliar oder so manche HUD-Einblendung viel, was uns sonst entgehen und so einiges an motivischer Tiefe kosten würde. Dabei macht die Inszenierung des Ganzen einen guten Job, indem markante Momente oder der meist sehr melancholische Soundtrack das Geschehen prima akzentuieren.

Dazu gesellt sich ein sehr grober Low-Poly-Grafiklook des gesamten Designs, der allerdings wunderbar zum hier verhandelten Motiv einer gläsernen und immer virtuelleren Welt passt, in der Individualität zwischen Mensch und Maschine fast schon erkämpft werden will, um buchstäblich noch sichtbar sein zu können. Die sehr stimmungsvollen Farbdesigns sind ein echtes Highlight und laden zusätzlich zum Verweilen und intensiveren Umsehen ein. Freunde eigenwilliger Grafikdesigns, wie man sie vor allem aus dem Indie-Sektor kennt, kommen hier also voll auf ihre Kosten.

Technisch hilft der kantige Stil natürlich auch dabei, die Performance des Games mit angenehm kurzen Ladepausen nicht zu stören und so haben selbst die etwas hölzernen Gesichtsanimationen letztlich einen Sinn (obwohl man sie trotzdem hätte schöner gestalten können). Die (dt./engl.) Sprecher machen ihre Sache ebenfalls sehr ordentlich und fügen sich in das Gesamterlebnis souverän ein, ohne das Voice-Acting zu sehr zu übertreiben.

Die Thematik ist der Star und sie könnte trotz aller Sci-Fi-Fantastik aktueller kaum sein. Daedalic hinterfragt mit seinem Konzept von State of Mind schließlich nichts weniger als das, was man schon heute in Teilen des Silicon Valley als Ende des Menschheit, wie wir sie kennen, feiert und präsentiert ohne plump aufgedrückte Wertungen eine gerade im letzten Drittel hochspannende Geschichte über Menschlichkeit auf mehreren Ebenen.

Spielt der Mensch nicht Gott, wenn er zum Dauerupload mutiert, der immer wieder einen neuen Körper beziehen kann? Wer bleibt zurück? Wer kann sich das neue Utopia eigentlich in mehrfacher Hinsicht „leisten“? Und wie sehr lassen wir Technologie an uns heran, die die wenigsten von uns überhaupt verstehen (können) und deren Nutzen (und Risiken) hinter profitorientierten Marketingslogans oft gänzlich verschwinden? Man könnte diese Liste noch weiter fortsetzen und genau diese Qualität sollte man State of Mind viel eher anrechnen, als mit einer falschen Erwartung an ein „aktionsreicheres“ Gameplay den Ansatz der Macher zu verkehren.

Eigentlich gibt es nur zwei Dinge, die man dem Titel aus dieser Sicht wirklich ankreiden oder als Arbeitsauftrag für eine mögliche Fortsetzung mit auf den Weg geben könnte: Klar, jede Spielwelt kann größer und damit noch atmosphärisch dichter gestaltet sein, doch schon 1-2 weitere mehrfach begehbare Settings, hätten gerade in den ersten Spielstunden entscheidend dazu beigetragen, den urbanen Charakter des dystopischen Berlins noch glaubhafter umzusetzen (was übrigens ausgerechnet der Vorspann gut umsetzt).

Außerdem wäre es sinnvoll gewesen, dass sich die unterschiedlichen Wahloptionen in den Dialogen auch tatsächlich auf das weitere Geschehen auswirken und nicht nur in Nuancen zu Unterschieden in der jeweiligen Situation führen. Aber das könnte ein zweiter Teil liefern, den es nach dieser narrativen wie spielweltenspezifischen Aufbauarbeit definitiv geben könnte.

Fazit

Kritiker würden es wohl so ausdrücken: weder ein Game für Ungeduldige noch ein Traum für Freunde komplexer Spielmechaniken. Aber das sind genau die falschen Erwartungen, die Daedalics sehr durchdachtes, erzählerisch feines und atmosphärisch ungemein dichtes Adventure State of Mind gar nicht wecken möchte. Story, Thematik und Stimmung rund um den Komplex Transhumanismus, virtuelle Identität und Machtmissbrauch werden hier absolut großgeschrieben und dazu – ähnlich wie bei Telltale – klassisches Gameplay und mögliches Scheitern auf ein Minimum zurückgefahren.

Wer sich auf ein stimmig designtes Setting mit Tiefgang einlassen und wie bei einer guten Serie nicht jede Episode an möglichst spektakulären Effekten, sondern an kleinen, aber durchaus wichtigen Feinheiten für das Vorantreiben der Handlung und Charaktere messen möchte, ist hier auf PS4, Xbox One, Switch oder PC genau richtig. Allein eine Szene wie die, in der man als virtuelle Prostituierte mit Kunden und deren (Macht-)Fantasien konfrontiert wird, zählt mit zum Intelligentesten, was ein dystopisches Sci-Fi-Game jemals spielerisch ausgedrückt hat.

Kein Zufall eben, dass dieser Titel nach sehr gelungenen Games wie The Whispered World, The Long Journey Home oder Silence Daedalics lange Reihe ungewöhnlicher, nicht immer massentauglicher, aber umso spannenderer Games weiter ausbaut.

State of Mind • Daedalic Entertainment • Sci-Fi-Adventure

Abb. © Daedalic Entertainment

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.