15. April 2019

Die Aliens kommen

Stephen Baxter erzählt in „Die Venus-Invasion“ eine First-Contact-Geschichte der anderen Art

Lesezeit: 23 min.

Es gibt kaum eine Spielart des Genres, in der Stephen Baxter nicht bereits brilliert hätte. Ob nun in der Hard-SF, in Alternativwelten („Das Ende der Menschheit“, im Shop) und -geschichte (Die Zeit-Verschwörung-Tetralogie, im Shop), mit Space Operas (zum Beispiel „Proxima“, im Shop) oder, zusammen mit Terry Pratchett, gar im Jugendbuch – Baxter hat in vielen Romanen gezeigt, dass er überall ein Meister sein kann.

Stephen Baxter: ObeliskSein soeben erschienener Sammelband „Obelisk“ (im Shop) zeigt in 17 Erzählungen einen Querschnitt durch sein beeindruckendes Schaffen und beweist, dass er auch die kurze Form meisterhaft beherrscht. In seiner Story „Die Venus-Invasion“ bekommt das Sonnensystem (endlich?) Besuch aus den Weiten des Alls. Doch während die Politiker, Wissenschaftler und Theologen noch debattieren, was das für die Menschheit bedeutet, stellen die Astrophysiker fest, dass die Erde gar nicht das Ziel der Invasoren ist …

 

Die Venus-Invasion
 

Für mich war die Saga der Ankömmlinge in erster Linie Elspeth Blacks Geschichte – denn mehr als jeder andere, den ich kannte, hatte sie ein Problem damit.

Als die Nachricht publik wurde, verließ ich London, um Elspeth in ihrer Landkirche zu besuchen. Dazu musste ich ein Dutzend Termine absagen, darunter einen mit dem Büro der Premierministerin, aber sobald ich aus dem Wagen stieg und im sanften Septemberregen stand, wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Elspeth werkelte draußen vor der Kirche vor sich hin. Sie trug einen Overall und Gummistiefel und hantierte mit einem beängstigend aussehenden Presslufthammer für Profis. Aber aus einem Radio plärrte eine Anrufsendung, und drinnen, geschützt vor dem Regen, sah ich einen Breitbildfernseher und einen Laptop, auf denen Nachrichten liefen – meistens neue Prognosen, wo die Bremsflugbahn der Ankömmlinge enden könnte, und neue Weltraumbilder von ihrem »Fahrzeug«, falls es so etwas war, einem massiven, kometenkernähnlichen Eisblock, aus dem sehr komplexe Infrarotstrahlungsmuster drangen. Elspeth war mit der Welt verbunden, selbst hier draußen im tiefsten Essex.

Mit einem Grinsen kam sie auf mich zu und schob dabei eine Schutzbrille unter einem Helm hoch. »Toby.« Ich bekam einen Kuss auf die Wange und eine kurze Umarmung; sie roch nach Maschinenöl. Auf körperlicher Ebene gingen wir locker miteinander um. Vor fünfzehn Jahren, in unserem letzten Collegejahr, waren wir für kurze Zeit ein Paar gewesen; es hatte mit einer Art reuevoller Verlegenheit geendet – sehr englisch, sagten unsere amerikanischen Freunde –, aber für unsere Beziehung war es schlimmstenfalls eine Bodenschwelle gewesen. »Schön, dich zu sehen, aber auch eine Überraschung. Ich dachte, ihr Staatsdiener würdet eure Zeit nur noch in Krisensitzungen hinter verschlossenen Türen verbringen.«

Seit zehn Jahren war ich als Beamter im Umweltministerium tätig. »Nein, aber der alte Thorp« – mein Minister – »hockt seit vierundzwanzig Stunden in einer Dauersitzung des Parlamentsausschusses für Ausnahmesituationen. Keine Ahnung, wem das was bringen soll.«

»Ich muss gestehen, für den Laien ist nicht recht klar, wozu ein Umweltminister gut ist, wenn die Aliens kommen.«

»Na ja, sie versuchen, Vorkehrungen für den schlimmsten Fall zu treffen, einen Angriff aus dem Weltraum. Und vieles von dem, was wir uns so ausdenken können, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Naturkatastrophen – eine kinetische Waffe könnte wie ein Meteoriteneinschlag wirken, eine Verdunklung des Sonnenlichts wie ein starker Vulkanausbruch. Deshalb ist Thorp dabei, ebenso wie Gesundheit, Energie und Transport. Selbstverständlich stehen wir in Kontakt mit anderen Regierungen – und mit der NATO und den Vereinten Nationen. Die dringlichste Frage ist momentan, ob wir Signale senden sollen oder nicht.«

Sie runzelte die Stirn. »Wieso denn nicht?«

»Aus Sicherheitsgründen. Denk daran, Elspeth, wir wissen rein gar nichts über diese Burschen. Was, wenn unser Signal als Drohung aufgefasst wird? Und es gibt auch taktische Erwägungen. Jedes Signal würde einem potenziellen Feind Informationen über unsere technischen Fähigkeiten liefern. Es würde auch die schlichte Tatsache preisgeben, dass wir über ihre Anwesenheit Bescheid wissen.«

Sie lachte spöttisch. »›Taktische Erwägungen.‹ Paranoider Quatsch! Und außerdem wette ich, dass jedes Kind mit einem CB-Gerät in diesem Moment E.T. anfunkt, dass es nur so qualmt. Wahrscheinlich blinkt und blitzt der ganze Planet gerade von Funkbotschaften.«

»Ja, das stimmt. Man kann es nicht verhindern. Aber trotzdem, ein von der Regierung oder einer zwischenstaatlichen Stelle autorisiertes Signal wäre ein ganz anderer Schritt.«

»Ach, komm schon. Du kannst doch nicht wirklich glauben, dass jemand den Abgrund zwischen den Sternen überbrückt, nur um uns Schaden zuzufügen. Was könnten sie überhaupt wollen? So eine interstellare Mission ist doch bestimmt teuer. Wofür würde man so viel Geld ausgeben?«

Und schon waren wir in eine Diskussion verstrickt. Dabei war ich erst vor fünf Minuten aus dem Wagen gestiegen. Derartige Diskussionen hatten wir schon damals auf dem College geführt, spätnachts, manchmal in ihrem oder in meinem Bett. Sie hatte schon immer einen Hang zu den größeren Themen gehabt – »zum Kontext«, wie sie zu sagen pflegte. Obwohl wir beide anfangs Mathestudenten gewesen waren, hatte sich ihr Horizont beim Aufstieg in die exotische intellektuelle Höhenluft rasch erweitert, und sie war dazu übergegangen, sich mit älteren Formen des Denkens als dem wissenschaftlichen zu befassen – mit älteren Fragen, die noch immer einer Antwort harrten. Gab es einen Gott? Falls ja (oder falls nein), was war der Sinn unseres Daseins? Warum gab es uns – oder irgendetwas – überhaupt? In ihren späteren Studentenjahren belegte sie Wahlkurse in Theologie, hatte sich jedoch bald durch dieses Fach gebrannt und blieb unzufrieden. Die modernen Atheisten mit ihrer aggressiven Verweigerungshaltung stießen sie ebenfalls ab. Darum hatte sie nach dem College ihre eigene Reise durchs Leben angetreten – eine Reise auf der Suche nach Antworten.

Jetzt waren vielleicht einige dieser Antworten von den Sternen gekommen, auf der Suche nach ihr.

Deshalb hatte es mich in diesem sonderbaren Moment meines Lebens hierhergezogen. Ich brauchte Elspeths Blickwinkel. Im schwindenden Tageslicht sah ich die feine Patina der Linien um den Mund, den ich früher geküsst hatte, und die grauen Strähnen in ihrem roten Haar. Bestimmt argwöhnte sie – zu Recht –, dass ich mehr wusste, als ich ihr sagte – mehr, als publik gemacht worden war. Aber sie ging dem vorläufig nicht weiter nach.

»Komm, schau dir an, was ich mache«, sagte sie und brach die Diskussion damit abrupt ab. »Pass auf deine Schuhe auf.«

Wir gingen über schlammigen Rasen zum Haupteingang. Das Herzstück dieser alten, St. Cuthbert geweihten Kirche war ein Turm aus der Sachsenzeit; der Rest des Bauwerks war größtenteils normannisch, aber in viktorianischer Zeit hatte eine umfangreiche Restaurierung stattgefunden. Im Innern befand sich ein hübscher, wenn auch kalter Raum; die Steinwände warfen den Schall zurück. Das Gebäude war noch immer geweiht – Church of England –, aber in dieser dünn besiedelten, landwirtschaftlich geprägten Region gehörte es zu einer weitgespannten Kette von Kirchen, die in einem Sprengel vereinigt waren und selten genutzt wurden.

Elspeth hatte sich nie einer der herkömmlichen Religionen angeschlossen, aber etwas von deren Infrastruktur übernommen, wie sie gern sagte. Hier hatte sie nun eine Gruppe von Freiwilligen versammelt, mehr oder minder gleichgesinnte, unstete Seelen. Sie arbeiteten daran, die Bausubstanz der Kirche zu erhalten. Im Innern veranstaltete sie etwas mit ihrer Gruppe, was man als Mischung aus Diskussionen, Gebeten, Meditationen und Yoga-Übungen betrachten konnte – was immer zu funktionieren schien. So seien Religionen gewesen, bevor die großen monotheistischen Glaubensbekenntnisse die Macht übernommen hätten, behauptete sie. »Es gibt nur eine Möglichkeit, Gott zu erreichen, oder zumindest den Raum jenseits von uns, wo Gott sein sollte: Man muss hart arbeiten, anderen Menschen helfen und seinen Geist an die Grenzen seiner Fähigkeiten und dann noch ein kleines Stück weiter treiben und einfach die Ohren spitzen. Über den Logos hinaus zum Mythos

Sie war stets ruhelos, probierte ständig etwas Neues aus. Dennoch war sie in mancher Hinsicht die zufriedenste Person, der ich je begegnet war – zumindest bevor die Ankömmlinge auftauchten.

Jetzt jedoch war sie alles andere als zufrieden, was den Zustand der Kirchenfundamente betraf. Sie zeigte mir, wo sie Steinplatten hochgenommen und dabei durchweichten Boden freigelegt hatte. »Wir graben neue Entwässerungskanäle, aber es ist eine höllische Arbeit. Kann sein, dass wir die Fundamente letztendlich komplett erneuern müssen. Ganz unten scheinen sie aus Holz zu sein, da gibt es gewaltige Pfeiler aus sächsischer Eiche …« Sie musterte mich. »Diese Kirche steht hier seit tausend Jahren und war anscheinend noch nie einer solchen Bedrohung ausgesetzt. Ein Maßstab für die wahren Auswirkungen des Klimawandels, stimmt’s?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Man könnte vielleicht sagen, wir Arschlöcher im Umweltministerium sollten uns lieber auf solche Sachen konzentrieren, statt Vorbereitungen für interstellare Kriege zu treffen.«

»Tja, das solltet ihr. Allerdings würde sich eine reifere Spezies vielleicht auf positive Folgen vorbereiten. Denk darüber nach, Tobe! Jetzt gibt es Geschöpfe in diesem Sonnensystem, die klüger sind als wir. Das müssen sie sein, sonst wären sie nicht hier – stimmt’s? Irgendwo zwischen uns und den Engeln. Wer weiß, was sie uns erzählen können? Wie ist ihre Wissenschaft, ihre Kunst beschaffen – ihre Theologie?«

Ich runzelte die Stirn. »Aber was wollen sie? Könnte nämlich gut sein, dass es das ist, was von jetzt an zählt – ihre Agenda, nicht unsere.«

»Du leidest schon wieder unter Verfolgungswahn.« Aber sie zögerte. »Was ist mit Meryl und den Kindern?«

»Meryl ist zu Hause. Mark und Sophie sind in der Schule.« Ich hob die Schultern. »Alles so wie immer.«

»Manche Leute flippen aus. Plündern die Supermärkte.«

»Solche gibt’s immer. Wir wollen, dass alles so lange wie möglich so normal wie möglich weitergeht. Die moderne Gesellschaft ist effizient, Elspeth, aber nicht sehr belastbar. Schon bei einer Unterbrechung der Treibstoffversorgung wären wir binnen einer Woche erledigt, ganz zu schweigen von außerirdischen Invasoren.«

Sie schob eine lose graue Strähne unter ihren Helm zurück und schaute mich misstrauisch an. »Du kommst mir eigentlich ganz ruhig vor. Du weißt doch irgendwas. Oder, du Mistkerl?«

Ich grinste. »Du kennst mich.«

»Raus damit.«

»Zweierlei. Wir haben Signale aufgefangen. Oder wohl eher Leckverluste. Du weißt ja, dass wir seit einiger Zeit Infrarotzeug sehen, das aus dem Nukleus kommt. Jetzt haben wir Funkgeräusche entdeckt – schwach, klar strukturiert, sehr komplex. Vielleicht irgendein interner Kanal und nichts, was für uns gedacht wäre. Aber wenn wir daraus irgendwie schlau werden können …«

»Ja, das ist aufregend. Und das Zweite? Komm schon, Miller.«

»Wir haben bessere Daten über die Flugbahn. All das wird bald veröffentlicht werden – wahrscheinlich ist es eh schon durchgesickert.«

»Ja?«

»Die Ankömmlinge steuern tatsächlich das innere Sonnensystem an. Aber sie kommen nicht hierher – nicht zur Erde.«

Sie runzelte die Stirn. »Wohin dann?«

Ich ließ die Bombe platzen. »Zur Venus. Nicht zur Erde. Sie fliegen zur Venus, Elspeth.«

Sie schaute in den bedeckten Himmel, zu dem hellen Fleck, von dem ich wusste, dass er die Position der Sonne und die Umlaufbahnen der inneren Planeten, Venus und Merkur, kennzeichnete. »Zur Venus? Das ist ein bewölktes Höllenloch. Was könnten sie denn da wollen?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Tja, ich bin’s gewohnt, mit Fragen zu leben, auf die ich nie eine Antwort finden werde. Hoffen wir, dass es keine von dieser Sorte ist. Aber jetzt sollten wir uns erst mal nützlich machen.« Sie betrachtete meinen zerknitterten Whitehall-Anzug, meine mit Schlamm bespritzten Lacklederschuhe. »Kannst du noch ein bisschen bleiben? Willst du uns bei der Entwässerung helfen? Ich habe noch einen Overall, der dir passen könnte.«

Plaudernd und weitere Mutmaßungen anstellend, schlenderten wir durch die Kirche.

 

Wir nutzten Elspeths Goonhilly-Aktion für einen Familienausflug nach Cornwall.

Wir nahmen die Hauptverkehrsstraße, die sich entlang des Rückgrats der kornischen Halbinsel nach Westen schlängelt, und stiegen in einem kleinen Hotel in Helston ab. Die hübsche kleine Stadt war an diesem Tag für den jährlichen Furry Dance herausgeputzt, einen uralten, exzentrischen Karneval, bei dem die Kinder des Ortes in einer Art Hüpfreigen durch die hügeligen Straßen und manchmal auch durch die Häuser selbst zogen. Am nächsten Morgen wollte Meryl mit den Kids an den Strand weiter oben an die Küste fahren.

Ich brach ungefähr bei Tagesanbruch mit einem Mietwagen allein nach Südosten auf, Richtung Goonhilly Downs. Es war ein klarer Maimorgen, ungefähr acht Monate nach meinem Besuch bei Elspeth in ihrer Kirche. Unterwegs bemerkte ich die Venus, die am Osthimmel aufging und in meinem Rückspiegel deutlich zu sehen war, eine Lampe, die stetig leuchtete, während es draußen heller wurde.

Goonhilly ist ein hoch gelegenes, offenes Stück Land, ein windiger Ort. Seine Berühmtheit verdankt es der Tatsache, dass es einmal die größte Satelliten-Erdfunkstelle der Welt beherbergt hat – hier wurde die erste, per Telstar übertragene transatlantische Livefernsehsendung empfangen. Die Anlage hat vor Jahren den Betrieb eingestellt, aber die älteste Schüssel, eine tausend Tonnen schwere Parabolantenne namens »Arthur«, benannt nach König Artus, steht seitdem unter Denkmalschutz und blieb daher erhalten. Deshalb stand sie nun Elspeth und ihrem Komitee von Botschaftern zur Verfügung, die zunehmend ungeduldig geworden waren – vor allem Elspeth selbst –, weil die Regierung sich nach wie vor beharrlich weigerte, den Ankömmlingen Signale zu senden. Wegen der offiziellen Politik hatte ich hinter den Kulissen mithelfen müssen, die Genehmigungen durchzubringen.

Unmittelbar nachdem ich die noch vorhandenen Schüsseln am Horizont erblickt hatte, stieß ich auf eine Polizeiabsperrung, einen hastig errichteten Kunststoffzaun, der ein paar Gruppen von Slogans intonierenden Rufern und eine fundamentalistisch- religiöse Clique fernhielt, die dagegen protestierte, dass die Botschafter mit dem Teufel kommunizieren wollten. Mein Ministeriumsausweis half mir durchzukommen.

Elspeth wartete im Besucherzentrum der alten Anlage auf mich, das an diesem Morgen zum Frühstück geöffnet worden war; es gab Kaffee, Müsli und Toast. Ihre Freiwilligen räumten schmutziges Geschirr weg, während ein großer Wandfernseher über ihnen die Venus zeigte: eine Liveübertragung von einem Weltraumteleskop – die besten Bilder, die es momentan gab, obwohl jede größere Weltraumorganisation eine Sonde vorbereitete, die zu dem Planeten fliegen sollte, und die NASA bereits eine gestartet hatte. Der Nukleus der Ankömmlinge (es schien unangemessen zu sein, diesen Klumpen aus schmutzigem Eis als »Fahrzeug« zu bezeichnen, obwohl es sich zweifellos um ein solches handelte) war ein strahlend heller Stern, zu klein, um als Scheibe zu erscheinen; er kreiste in seiner weiten Umlaufbahn über einer halbmondförmigen Venus. Auf der Nachtseite des Planeten konnte man deutlich den Fleck erkennen, jenen seltsamen, komplexen Lichtschein in den Wolkenbänken, der dem Orbit der Ankömmlinge präzise folgte – ein Beweis für die Existenz von Venusianern, wie es schien, für die Existenz von intelligentem Leben auf dem Planeten, das auf den himmlischen Besucher reagierte. Es war seltsam, diese Choreografie im Weltraum zu beobachten, sich dann nach Osten zu wenden und die Venus mit bloßem Auge zu sehen.

Elspeths Freiwillige, ein paar Dutzend ernster Männer, Frauen und Kinder, die aussahen, als hätten sie sich zu einem Dorffest versammelt, besaßen die Kühnheit zu glauben, sie könnten mit diesen gottähnlichen Gestalten am Himmel sprechen.

Ein schreckliches metallisches Ächzen ertönte. Wir drehten uns um und sahen, dass Arthur sich an seinem Betongestell drehte. Die Freiwilligen jubelten, und eine allgemeine Bewegung hin zu dem Denkmal setzte ein.

Elspeth ging mit mir. Sie barg einen Teebecher aus Styropor in ihren fingerlosen Handschuhen. »Ich bin froh, dass du herkommen konntest. Du hättest die Kinder mitbringen sollen. Einige Einwohner von Helston sind hier; sie haben das Ganze in ihr Furry-Dance-Fest integriert. Hast du die Vorbereitungen in der Stadt gesehen? Angeblich wollen sie den Erzengel Michael feiern, der den Teufel verdrischt – ich frage mich, wie angemessen diese Symbolik ist. Jedenfalls sollte es ein vergnüglicher Tag werden. Später gibt es einen Tanz auf der Tenne.«

»Meryl hielt es für sicherer, mit den Kindern an den Strand zu fahren. Nur falls hier irgendwas aus dem Ruder läuft – du weißt schon.« Das entsprach weitgehend der Wahrheit. Es gab jedoch auch einen Subtext: Meryl hatte es nie sonderlich genossen, mit meiner Ex in einem Raum zu sein.

»Wahrscheinlich klug von ihr. Unsere britischen Rufer sind nicht ganz so wild, aber in ungehobelteren Teilen der Welt hat es durchaus schon Ärger gegeben.«

Der lockere internationale Zusammenschluss, der sich »die Rufer« nannte, trug einen paradoxen Namen, denn die beteiligten Gruppen setzten sich für das Schweigen ein; sie behaupteten, wenn man »im Dschungel laut rufe«, indem man den Ankömmlingen oder den Venusianern (falls sie existierten) Signale schicke, gehe man ein unverantwortliches Risiko ein.

Aber sie konnten natürlich nichts dagegen tun, dass die Ankömmlinge schon seit ihrer ersten Sichtung vor fast einem Jahr zum Ziel zahlloser Funkbotschaften auf niedriger Ebene geworden waren.

Elspeth machte eine Handbewegung zu Arthur. »Als Rufer wäre ich heute hier. Dies wird bei Weitem die lauteste Botschaft sein, die von den britischen Inseln aus losgeschickt wird.«

Ich hatte Rohfassungen von Elspeths Botschaft gesehen und gehört. Neben einer Primzahlenliste im Stil von Carl Sagan enthielt sie digitalisierte Musik von Bach bis zu Zulu-Gesängen, Kunst von Höhlenmalereien bis zu Warhol und Fotos von Menschen, die viele glückliche Kinder sowie Astronauten auf dem Mond zeigten. Sie enthielt sogar eine Kopie der Plakette der alten Pioneer-Raumsonde aus den Siebzigern, die mit dem lächelnden nackten Paar. Zumindest würde all dieses kuschelweiche Zeug, dachte ich zynisch, einen Kontrapunkt zu den Bildern von Krieg, Mord, Hungersnot, Seuchen und anderen Leiden bilden, in deren Genuss die Ankömmlinge inzwischen zweifellos gekommen waren – so sie denn beschlossen hatten, sie zur Kenntnis zu nehmen.

»Mich beschleicht allmählich das Gefühl, dass sie einfach kein Interesse haben«, sagte ich. »Weder die Ankömmlinge noch die Venusianer. Tut mir leid, wenn ich dir in die Suppe spucke.«

»Ich nehme an, die Kryptolinguisten sind mit der Entschlüsselung der Signale noch nicht viel weitergekommen?«

»Wir denken noch immer, dass es weniger ›Signale‹ als vielmehr Leckverluste interner Prozesse sind. In beiden Fällen, beim Nukleus und beim Fleck.« Ich rieb mir das Gesicht; ich war noch müde von der langen Fahrt am Vortag. »Im Fall des Nukleus scheint irgendeine Art von organischer Chemie starke Magnetfelder auszugleichen – und die Ankömmlinge wimmeln im Innern herum. Ich glaube, wir haben im Grunde nicht die geringste Ahnung, was da drin vorgeht. Hinsichtlich der Wissenschaft der venusianischen Biosphäre kommen wir allerdings besser voran …«

Hatte uns das Erscheinen der Ankömmlinge schon in Erstaunen versetzt, so waren die völlig unerwarteten Beweise für die Existenz intelligenten Lebens auf der Venus schlichtweg atemberaubend. Niemand hatte damit gerechnet, dass sich die Wolken unmittelbar unter dem Nukleus der Ankömmlinge in der Umlaufbahn teilen würden – als gäbe es dort ein Sturmsystem, das kilometertief in diesen dicken Ozean einer Atmosphäre hinabreichte –, und niemand hatte erwartet, dass wir den Fleck zu sehen bekommen würden, strudelnde Nebelbänke, in denen Lichter verlockend flackerten, wie organisierte Blitze.

»Im Nachhinein betrachtet, hätten wir angesichts der Ergebnisse der alten Raumsonden vielleicht mutmaßen können, dass es da etwas auf der Venus gibt – Leben, wenn nicht sogar intelligentes Leben. Diverse chemische Verbindungen waren immer in zu geringem oder in zu hohem Maße vorhanden, ohne dass es dafür eine Erklärung gab. Wir denken, dass die Venusianer in den Wolken leben, so hoch über dem glühend heißen Boden, dass die Temperaturen niedrig genug für die Existenz von flüssigem Wasser sind. Sie nehmen Kohlenmonoxid auf und scheiden Schwefelverbindungen aus, leben von der ultravioletten Strahlung der Sonne.«

»Und sie sind intelligent.«

»O ja.« Die Astronomen, die bereits die komplexen Signale aus dem Nukleus der Ankömmlinge aufzeichneten, nahmen nun auch im venusianischen Fleck reichhaltige Muster wahr. »Man kann erkennen, wie komplex eine Botschaft ist, auch ohne etwas über ihren Inhalt zu wissen. Man misst Entropieordnungen, die wie Korrelationsmaße sind, indem man auf diversen Ebenen in die Übertragung eingebettete Strukturen erfasst …«

»Du verstehst nichts von dem, was du gerade gesagt hast, oder?«

Ich lächelte. »Kein Wort. Aber eines weiß ich. Nach ihren Datenstrukturen zu urteilen sind uns die Venusianer in puncto Intelligenz in demselben Maße überlegen wie wir den Schimpansen. Und die Ankömmlinge sind wiederum intelligenter als sie.«

Elspeth drehte sich um und schaute zum Himmel hinauf, zum hell leuchtenden Funken der Venus. »Aber du sagst, die Wissenschaftler glauben noch immer, all dieses Geschnatter sei bloß … wie hieß das Wort?«

»Leckverlust. Die Ankömmlinge und die Venusianer reden nicht mit uns, Elspeth. Sie reden nicht mal miteinander. Was wir beobachten, ist jeweils so was wie ein interner Dialog. Beide führen lediglich Selbstgespräche. Ein Theoretiker hat der Premierministerin mitgeteilt, dass beide Entitäten vielleicht eher Schwärmen als menschlichen Gemeinschaften gleichen.«

»Schwärmen?« Sie wirkte beunruhigt. »Schwärme sind anders. Sie können zweckorientiert sein, aber sie besitzen keinn Bewusstsein, so wie wir. Im Gegensatz zu uns sind sie nicht klar abgegrenzt; ihre Ränder sind viel verschwommener. Sie sind nicht mal sterblich; Einzelwesen können sterben, aber der Schwarm lebt weiter.«

»Dann frage ich mich, wie ihre Götter wohl beschaffen sein mögen.«

»Es ist alles so seltsam. Diese Aliens passen einfach in keine Kategorie, die wir erwartet haben oder zu der wir auch gehören. Nicht sterblich, nicht kommunikativ – und nicht an uns interessiert. Was wollen sie? Was können sie wollen?« Dieser Ton sah ihr gar nicht ähnlich; es klang, als stünde sie verwirrt vor diesen offenen Fragen, statt wie sonst immer von Geheimnissen begeistert zu sein.

Ich versuchte, sie zu beruhigen. »Vielleicht wird euer Signal ein paar Antworten erbringen.«

Sie schaute auf ihre Armbanduhr und hob den Blick dann wieder zur Venus. »Tja, wir müssen nur noch fünf Minuten warten, bis …« Ihre Augen wurden groß, und sie verstummte.

Ich drehte mich um und schaute, ihrem Blick folgend, nach Osten.

Die Venus flammte auf. Sie flackerte wie eine erlöschende Kerze.

Die Leute begannen zu reagieren. Sie schrien auf, zeigten hin oder standen einfach nur da und machten große Augen, so wie ich. Ich konnte mich nicht rühren. Ich verspürte eine tiefe, ehrfürchtige Angst. Dann deuteten einige mit lauten Rufen auf den großen Bildschirm im Besucherzentrum, wo die Weltraumteleskope offenbar eine sehr seltsame Abfolge von Bildern zur Erde schickten.

Elspeths Hand stahl sich in meine. Plötzlich war ich sehr froh, dass ich meine Kinder an diesem Tag nicht mitgenommen hatte.

Dann hörte ich zornigere Rufe und eine Polizeisirene, und mir stieg Brandgeruch in die Nase.

 

Nachdem ich meine Aussage gegenüber der Polizei gemacht hatte, fuhr ich zum Hotel in Helston zurück. Meryl war wütend und erleichtert, mich zu sehen, und die Kinder wirkten verwirrt und irgendwie verängstigt. Ich konnte nicht glauben, dass es nach allem, was geschehen war – die seltsamen Ereignisse bei der Venus, die Angriffe von Rufern auf Botschafter und umgekehrt, die Brandstiftung, Elspeths Verletzung, das harte Durchgreifen der Polizei –, noch nicht einmal elf Uhr vormittags war.

Noch am selben Tag brachte ich meine Frau und die Kinder wieder nach London und ging zur Arbeit. Drei Tage nach dem Vorfall kam ich schließlich wieder weg und besorgte mir einen Dienstwagen samt Chauffeur, der mich nach Cornwall zurückbrachte.

Elspeth lag nicht mehr auf der Intensivstation, musste aber noch immer im Krankenhaus von Truro bleiben. Sie hatte einen Fernseher vor der Nase, der Bildschirm war dunkel. Ich küsste sie vorsichtig auf die nicht verbrannte Wange, setzte mich und gab ihr Bücher, Zeitungen und Blumen. »Ich dachte mir, du würdest dich vielleicht langweilen.«

»Im Umgang mit Kranken warst du noch nie besonders gut, stimmt’s, Tobe?«

»Entschuldige.« Ich schlug eine der Zeitungen auf. »Aber es gibt gute Neuigkeiten. Man hat die Brandstifter von Goonhilly gefasst.«

Sie stieß einen verächtlichen Laut aus; ihr verzerrter Mund öffnete sich kaum. »Na und? Spielt doch gar keine Rolle, wer die waren. Botschafter und Rufer sind sich in aller Welt gegenseitig an die Gurgel gegangen. Solche Leute sind austauschbar … Aber mussten wir uns alle so schlecht benehmen? Sie haben ja sogar Arthur zerstört.«

»Und der stand unter Denkmalschutz!«

Sie lachte und bereute es sogleich, denn sie zuckte vor Schmerz zusammen. »Aber warum sollten wir hier unten nicht alles zertrümmern? Das scheint schließlich das Einzige zu sein, was die da oben interessiert. Die Ankömmlinge haben die Venus angegriffen, und die Venusianer haben zurückgeschlagen. Wir haben es alle live im Fernsehen gesehen – es war kein bisschen niveauvoller als Der Krieg der Welten.« Sie klang enttäuscht. »Diese Geschöpfe sind uns überlegen, Toby. Euer ganzer Signalanalysekram hat es bewiesen. Und doch sind sie nicht über Krieg und Zerstörung hinaus.«

»Aber wir haben so viel gelernt.« Ich hatte eine kleine Aktentasche dabei. Jetzt öffnete ich sie, holte ein paar Ausdrucke hervor und breitete sie auf ihrem Bett aus. »Die Fernsehbilder sind besser, aber du weißt ja, wie es ist; ich darf meinen Laptop oder mein Smartphone hier drin nicht benutzen … Schau, Elspeth. Es war unglaublich. Der Angriff der Ankömmlinge auf die Venus hat Stunden gedauert. Ihre Waffe, was für eine es auch war, hat sich durch den Fleck und die ganze Atmosphäre gebrannt, die hundertmal dicker ist als die der Erde. Wir haben sogar ganz kurz die Oberfläche zu sehen bekommen …«

»Die jetzt zu Schlacke geschmolzen ist.«

»Großenteils jedenfalls … Aber dann haben die Säurefresser in den Wolken zurückgeschlagen. Wir glauben zu wissen, was sie getan haben.«

Das weckte ihr Interesse. »Und woher wissen wir das?«

»Pures Glück. Diese NASA-Sonde, die gerade zur Venus geflogen ist, war zufällig im Weg …«

Die Sonde hatte eine Woge elektromagnetischer Strahlung entdeckt, die von dem Planeten kam.

»Ein Signal«, hauchte Elspeth. »Wohin gerichtet?«

»Weg von der Sonne. Und dann, acht Stunden später, hat die Sonde ein weiteres Signal registriert, das aus der Gegenrichtung kam. Ich sage ›registriert‹. Sie ist herumgetanzt wie ein Korken auf einem Teich. Wir glauben, dass es eine Gravitationswelle war – sehr scharf gebündelt, sehr stark.«

»Und als die Welle den Nukleus der Ankömmlinge getroffen hat …«

»Tja, du hast die Bilder gesehen. Die letzten Fragmente sind in der Atmosphäre der Venus verglüht.«

Sie legte sich auf ihren Berg von Kissen zurück. »Acht Stunden «, sagte sie nachdenklich. »Gravitationswellen reisen mit Lichtgeschwindigkeit. Vier Stunden hin, vier Stunden zurück … Die Erde ist ungefähr acht Lichtminuten von der Sonne entfernt. Was ist vier Lichtstunden von der Venus entfernt? Der Jupiter, der Saturn …«

»Neptun. Der Neptun war vier Lichtstunden weit draußen.«

»War?«

»Er ist weg, Elspeth. Oder so gut wie weg – die Monde sind noch da, ein paar Brocken Kerneis und Gestein, die sich langsam zerstreuen. Die Venusianer haben den Planeten benutzt, um ihren Gravitationswellenimpuls zu erzeugen …«

»Sie haben ihn benutzt. Erzählst du mir das, um mich aufzuheitern? Ein riesiger Planet, ein signifikantes Stück vom Masse- Energie-Budget des Sonnensystems, geopfert für eine einzige kriegerische Geste.« Sie lachte bitter. »O Gott!«

»Natürlich haben wir keinen blassen Schimmer, wie sie das angestellt haben.« Ich packte meine Bilder weg. »Wenn wir schon vor den Ankömmlingen Angst hatten, fürchten wir uns jetzt umso mehr vor den Venusianern. Diese NASA-Sonde wurde abgeschaltet. Wir wollen nichts tun, was wie eine Bedrohung aussieht … Weißt du, ich habe die Premierministerin persönlich fragen hören, warum dieser Krieg im Weltraum eigentlich gerade jetzt ausgebrochen ist, wo wir Menschen auf der Erde auftauchen. Selbst Politiker wissen, dass wir noch nicht so lange hier sind.«

Elspeth schüttelte den Kopf und zuckte erneut zusammen. »Der Gipfel der Eitelkeit. Bei diesem ganzen Ereignis ist es keinen Moment lang um uns gegangen. Siehst du das nicht? Wenn dies jetzt geschieht, muss es immer wieder geschehen sein. Vielleicht ist alles, was wir sehen, die Planeten, Sterne und Galaxien, nur das Trümmerfeld immer neuer gewaltiger Kriege in Dimensionen, die wir uns kaum vorstellen können. Und wir sind bloß Unkraut, das im Schutt wächst. Sag das der Premierministerin. Und ich dachte, wir könnten sie nach ihren Göttern fragen! Was für ein Dummkopf ich war – die Fragen, auf die ich mein Leben verschwendet habe, und hier sind nun meine Antworten – was für ein Dummkopf.« Sie geriet zunehmend in Erregung.

»Immer mit der Ruhe, Elspeth …«

»Ach, geh einfach. Ich komme schon klar. Das Universum ist kaputt, nicht ich.« Sie wandte sich auf ihren Kissen ab, als wollte sie schlafen.

 

Als ich Elspeth das nächste Mal sah, hatte sie das Krankenhaus verlassen und war zu ihrer Kirche zurückgekehrt.

Es war ein Septembertag, wie bei meinem ersten Besuch, nachdem die Ankömmlinge in unseren Teleskopen aufgetaucht waren, aber wenigstens regnete es diesmal nicht. In der Brise lag eine gewisse Schärfe, aber ich dachte mir, dass sie ihre versehrte Haut beruhigte. Und da stand sie und buddelte im Schlamm vor ihrer Kirche.

»Äquinoktialzeit«, sagte sie. »Es wird Regen geben. Am besten, ich kriege das vor der nächsten Überschwemmung fertig. Und bevor du fragst, die Ärzte haben es mir erlaubt. Mein Gesicht ist im Eimer, der Rest aber nicht.«

»Ich wollte gar nicht fragen.«

»Dann ist es ja gut. Wie geht’s Meryl, den Kindern?«

»Gut. Meryl ist auf der Arbeit, die Kinder gehen wieder zur Schule. Das Leben geht weiter.«

»Muss es wohl auch. Was sonst? Und übrigens, nein.«

»Nein was?«

»Nein, ich mache in der Expertenkommission deines Ministers nicht mit.«

»Überleg’s dir wenigstens. Du wärst ideal. Weißt du, wir versuchen alle herauszufinden, wie es jetzt weitergehen soll. Das Auftauchen der Ankömmlinge, der Krieg auf der Venus – das war wie eine religiöse Offenbarung. So wird es beschrieben. Eine Offenbarung, die der gesamten Menschheit zuteilwurde, per TV. Plötzlich haben wir eine völlig andere Sicht auf das Universum da draußen. Und wir müssen uns darüber klar werden, wie wir in einer ganzen Reihe von Dimensionen vorwärtsgehen wollen – politisch, wissenschaftlich, ökonomisch, sozial, religiös.«

»Ich sage dir, wie wir vorwärtsgehen. Voller Verzweiflung. Die Religionen brechen zusammen.«

»Nein, das stimmt nicht.«

»Okay. Die Theologie bricht zusammen. Die Philosophie. Der Rest der Welt hat den Kanal gewechselt und schon wieder alles vergessen, aber wer auch nur die geringste Vorstellungskraft besitzt, kennt die Wahrheit … In gewisser Hinsicht war das die letzte Degradierung, das Ende des Prozesses, der mit Kopernikus und Darwin begonnen hat. Jetzt wissen wir, dass es im Universum Geschöpfe gibt, die viel klüger sind, als wir es je sein werden, und wir wissen, dass sie sich nicht die Bohne für uns interessieren. Diese Gleichgültigkeit ist das Schlimmste – findest du nicht? Unsere ganze vergebliche Aufregung darüber, ob sie uns angreifen würden und ob wir ihnen Signale senden sollten … Und sie haben sich bloß gegenseitig den Schädel eingeschlagen. Wenn das über uns ist, was bleibt uns dann anderes übrig, als uns abzuwenden?«

»Du wendest dich nicht ab.«

Sie stützte sich auf ihre Schaufel. »Ich bin nicht religiös; ich zähle nicht. Meine Gemeinde hat sich abgewandt. Jetzt bin ich allein hier.« Sie schaute zum wolkenlosen Himmel hinauf. »Vielleicht ist Einsamkeit der Schlüssel zu allem. Eine galaktische Isolation, erzeugt durch die gewaltigen Abgründe zwischen den Sternen und die Grenze der Lichtgeschwindigkeit. Wenn sich eine Spezies entwickelt, gibt es vielleicht eine kurze Phase der Individualität, der Innovationen und der technologischen Errungenschaften. Aber wenn einem das Universum dann nichts zurückgibt, wendet man sich wieder sich selbst zu und gleitet in die milchige Umarmung der Eusozialität – des Schwarms.

Aber was dann? Wie wäre es für ein Massenbewusstsein, wenn es ganz allein entstünde? Vielleicht haben die Ankömmlinge deshalb Krieg geführt. Weil sie durch irgendeinen Zufall – und zu ihrer Empörung – feststellen mussten, dass sie nicht allein im Universum waren.«

»Die meisten Kommentatoren denken, dass es um Rohstoffe ging. Bei unseren Kriegen geht es letztlich meistens darum.«

»Ja, deprimierend. Offenbar beruht alles Leben auf der Vernichtung anderen Lebens, selbst in den gewaltigsten Dimensionen von Raum und Zeit … Aber unsere Vorfahren wussten das bis zurück zur Eiszeit und haben die Tiere verehrt, die sie töten mussten. Sie stehen so weit über uns, die Ankömmlinge und die Venusianer, und doch sind wir ihnen in unseren besten Momenten vielleicht moralisch überlegen.«

Ich berührte sie am Arm. »Deshalb brauchen wir dich. Wegen deiner Erkenntnisse. Da kommt ein Sturm auf uns zu, Elspeth. Wir werden zusammenarbeiten müssen, wenn wir ihm trotzen wollen, denke ich.«

Sie runzelte die Stirn. »Was für ein Sturm? Oh. Neptun.«

»Ja. Man kann nicht einfach eine Welt auslöschen, ohne dass es Folgen hätte. Die Umlaufbahnen der Planeten singen wie gezupfte Saiten. Ähnliches gilt auch für die Asteroiden und Kometen, und diese verwaisten Monde wandern umher. Ein Teil der aufgewühlten Trümmer stürzt ins innere System.«

»Und falls wir getroffen werden …«

Ich zuckte die Achseln. »Wir werden einander helfen müssen. Es gibt sonst niemanden, der uns hilft, so viel steht fest. Sieh mal, Elspeth – vielleicht sind die Ankömmlinge und die Venusianer typisch für das, was da draußen ist. Aber das heißt nicht, dass wir so sein müssen wie sie, nicht wahr? Vielleicht finden wir andere, die uns ähnlicher sind. Und wenn nicht, na ja, wir können die Ersten sein. Ein Funke, der ein Feuer entfacht, das aufs ganze Universum übergreift.«

Sie dachte nach. »Irgendwo muss man wohl anfangen. So wie bei diesem Entwässerungsgraben.«

»Tja, da hast du’s.«

»Na schön, verdammt, ich mache bei eurer Expertenkommission mit. Aber erst mal hilfst du mir, das hier zu erledigen, ja, du Stadtmensch?«

Ich schlüpfte in einen Overall und Arbeitsstiefel, und wir hoben diesen Graben in der feuchten, klebrigen Erde aus, bis uns der Rücken schmerzte und das Licht des Äquinoktialtages langsam verblasste.

 

Stephen Baxter: „Obelisk“ ∙ Erzählungen ∙ Aus dem Englischen von Peter Robert ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 512 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

 

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