Ein japanischer Horror-Meister in Mannheim
Teil I: Ein Blick in die Welt von Junji Ito
Zwischen dem 2. und dem 4. August öffnete mal wieder Deutschlands dienstälteste Manga- und Animeconvention Animagic die Pforten und wie immer war der Andrang gigantisch, die Stimmung gut und die Optik wunderbar bunt, denn natürlich fanden sich auch wieder eine Menge Cosplayer ein, die mit fantasievollen Kostümen die Netzhaut entzückten.
Dank dem Carlsen-Verlag hatte ich die großartige Gelegenheit ein Interview mit einer echten Manga-Legende zu führen, dessen Namen mir schon lange ein Begriff war, bevor ich auch nur eine seiner Comicseite zu Gesicht bekommen hatte: Junji Ito.
Es war um die Jahrtausendwende kaum möglich sich der Japan-Horror-, oder kurz J-Horror- Welle zu entziehen, die den vor allem vom US-Slasher-Film dominierten Horrorfilm der 1980er- und 1990er-Jahre mit ungewöhnlichen und vor allem weitaus subtileren Filmen ablöste. Den Anfang machte 1998 „Ring“ von Hideo Nakata, „Ju-On: The Grudge“ (2002) von Takashi Shimizu und „Dark Water“ (2002), ebenfalls von Nakata, folgten. Hollywood ließ mit den obligatorischen, natürlich durch die Bank weg misslungenen Big-Budget-Remakes nicht lange auf sich warten.
Die generelle Begeisterung war groß, doch im September 2001 schickte der kleinen Verleih Rapid Eye Movies einen Film in die Lichtspielsäle, der recht unterschiedlich aufgenommen wurde, denn „Uzumaki“ war selbst in diesem Kontext besonders. Erzählt wird von der Kleinstadt Kurouzu, in der Schülerin Kirie Zeugin seltsamer Ereignisse wird. Der Vater ihres besten Freundes Shuichi entwickelt eine wahnhafte Obsession für Spiralen, es fällt ein Schüler durch das Treppenhaus und liegt auf einem spiralförmigen Boden und die Haare einer Schülerin wachsen unnatürlich und kreiseln sich. Schließlich wird Shuichis Vater aufgefunden, tot, in Form einer Spirale …
Der atmosphärische Film, der für die einen irritierender- und für die anderen erfreulicherweise komplett auf Erklärungen verzichtet, basiert auf einer Manga-Vorlage von Junji Ito, der zu dieser Zeit in Deutschland noch ein unbeschriebenes Blatt war, aber in Japan und im englischsprachigen Ausland bereits große Erfolg feierte. So wurde Itos Debüt „Tomie“ in seiner Heimat bereits 1998 verfilmt, der Startschuss zu einer umfangreichen Franchise, in den USA wurde der Künstler 2003 für den Eisner Award nominiert. Mittlerweile erfreut sich das Ausnahmetalent auch in Deutschland großer Beliebtheit: Carlsen veröffentlicht seine Comics seit 2019 in unregelmäßigen Abständen als schick gestaltete Deluxe-Bände (alle bisher erschienenen Titel) und konnte laut Eigenauskunft bereits 134.000 Bücher verkaufen, was angesichts dessen, dass die Geschichten nicht unbedingt familienfreundlich sind, beachtlich ist.
Im Folgenden ein kleiner, schneller Rundgang durch die Welt von Ito, der zwar vor allem als Horror-Manga-König bekannt ist, aber Science-Fiction ebenso wenig abgeneigt ist.
Der 1963 geborene Künstler fing bereits im Alter von vier Jahren an, Manga zu zeichnen, wurde dann aber erstmal Zahntechniker, bevor er drei Jahre später seine Karriere als professioneller Künstler startete.
Itos Arbeiten werden zwar gemeinhin als „Horror“ klassifiziert, aber genauer genommen stehen seine Geschichten überwiegend in der Tradition des eru guro (dt. „Erotischer, grotesker Nonsense), Was ähnlich, aber nicht genau das Gleiche und vor allem sehr viel japanischer ist. Eru guro basiert auf eine literarische und künstlerische Bewegung, die 1923, kurz vor dem großen Kantō-Erdbeben, startete und deren Einflüsse bis ins 19. Jahrhundert, zu Künstlern wie Tsukioka Yoshitoshi, Utagawa Kuniyoshi oder Kathsusika Hokusai, zurückreicht. Diese Künstler produzierten nicht nur Bilder mit explizit sexuellem Inhalt (so genannte Shunga), sondern auch Holzschnitzereien, auf denen Köpfungen oder andere Gewalttaten mit historischem Hintergrund zu sehen waren.
Die ero-guro-Bewegung hatte die Erkundung alles Abartigen, Bizarren und Lächerlichen auf dem Programm und wurde vor allem im hemmungslosen Tokio der 1920er-jahre zu einem regelrechten Lifestyle, aus dem sich eine entsprechende Kunstrichtung entwickelte. Ungefähr Mitte der 1930er-Jahre, als sich der Beginn des zweiten Weltkriegs abzeichnete, versandete die ero-guro-Kunst allmählich, verschwand in den folgenden Jahrzehnten aber nie völlig und brandete in mehreren Wellen (die vielleicht größte schwappte durch die 1960er-Jahre) wieder auf.
Westliche Literatur übte einen sehr großen Einfluss auf ero guro aus. Vor allem die Schauernovellen von Edgar Allen Poe, ein Zeitgenosse Mary Shelleys, spielten eine wichtige Rolle – einer der wichtigsten Schriftsteller der ero-guro-Literatur war unter dem Pseudonym Edogawa Ranpo (eine Abwandlung der japanischen Aussprache von Edgar Allan Poe, Edogaa aran poo) aktiv. Es ist insgesamt schwierig, das Phänomen ero guro, welches weitere Felder wie Musik oder Theater umfasst, in kompakter Form trennscharf zu definieren, was man merkt, wenn man sich Definitionen verschiedener Quellen anschaut – vor allem Wikipedia greift hier einmal mehr daneben. Empfehlenswert ist dagegen das 2009 erschienene Buch „Erotic Grotesque Nonsense: The Mass Culture of Japanese Modern Times“ von Miriam Silverberg: kaum jemand dürfte sich tiefgehender mit diesem Phänomen befasst haben. Auf jeden Fall lässt sich festhalten, dass eine ausgeprägte und oft mit dunklem Humor unterfütterte Neigung zum Grotesken stets eine dominante Rolle spielt.
Ito gilt als einer der etwas zahmeren ero-guro-Künstler, in Sachen Gewalt und Sex deutlich zurückhaltender als viele Kollegen, dafür finden sich bei ihm oft bizarre Frauen, die Männern das Leben schwer machen und allerlei auf fantasievollste Weise deformierte Körper, was ihn den Titel „David Cronenberg des Mangas“ eingebracht hatte.
Es ist jedenfalls kein Wunder, dass Mary Shelleys Jahrhundert-Roman „Frankenstein“ (im Shop) über monströse Menschen und ein nur allzu menschliches Monster von Ito adaptiert wurde. Shelleys Werk, das erst dank der Verfilmung von 1931 zu einer „echten“ Horrorgeschichte wurde, liegt dem ero guro recht nahe.
Bei „Frankenstein“ hält sich der mittlerweile kultisch verehrte Meister mit abseitigen Ideen allerdings zurück, dafür – natürlich mit entsprechenden Komprimierungen – nah an Shelleys Vorlage, der allerdings ein paar Elemente aus James Whales genialer Verfilmung von 1931 und dessen vom gleichen Regisseur gedrehter Fortsetzung „Frankensteins Braut“ (1935) reingeschoben wurden – doch das Monster atmet den Geist Shelleys und ist hier zudem riesengroß. Erst in einer pechschwarzhumorigen Szene, in der Frankenstein versucht ein Gehirn selbst zu schaffen, was missglückt und er das missratene Ergebnis daraufhin kurzerhand mit der Faust zertrümmert, macht sich Itos Handschrift deutlich bemerkbar, um beim Erwachen der Gefährtin des Monsters dann vollends zur Geltung zu kommen. Nicht nur, dass mit der Gefährtin eine im Roman hingerichtete und in Whales Filmen gar nicht auftauchende Figur eine Art Comeback bekommt, sie reagiert in einem äußerst makabren Höhepunkt der Geschichte, der aufgrund der Größe der beiden künstlich erschaffenen Wesen ein wenig an japanische Monsterfilme erinnert, anders als in der Leinwandproduktion von 1935 (und sieht lange nicht so gut aus). Sie erweist sich als ausgesprochen angriffslustig, muss dafür aber auf bitterböse und nicht unlustige Weise büßen. Insgesamt jedenfalls eine tolle Comic-Umsetzung des Literaturklassikers, die man unbedingt kennen sollte.
„Uzumaki“ und „Tomie“ sind natürlich die Ito-Highlights schlechthin. „Uzumaki“ – hier scheint vielleicht am stärksten Itos Lovecraft-Einfluss hervor – hat ein deutlich besseres Ende als die Filmadaption, die zu einem Zeitpunkt entstand, als die Manga-Reihe noch gar nicht abgeschlossen war. In „Tomie“ dreht sich alles um die schöne, schwarzhaarige, unsterbliche Tomie Kawakami, die reihenweise Männer um den Verstand bringt. Es ist in diesem Fall ein bisschen schade, dass die komplette Reihe in einem Buch untergebracht wurde, denn der 744-seitige Wälzer ist nicht gerade handlich, aber uneingeschränkt empfehlenswert ist die Saga aber natürlich so oder so und das nicht nur in inhaltlicher Hinsicht. Der „Tomie“-Band führt außerdem anschaulich Itos Weiterentwicklung als Zeichner vor Augen, so wirken die ersten Episoden noch arg schlicht.
Was seine Kurzgeschichten angeht – Ito hat weitaus mehr Shortstories als lange produziert, um die 200 – ist es natürlich schwierig, einen kurzen Einblick zu geben, lesenswert ist mehr oder weniger alles, deswegen an dieser Stelle nur drei Highlights (wobei sich vortrefflich streiten lässt, was alles unter Kurzgeschichte fällt, „Frankenstein“ etwa hat auch „nur“ 84 Seiten). Da wäre zum einen „Tonio mit dem roten Rollkragenpullover“ (aus „Fragments of Horror“), die sich um Tonio dreht, der an eine hübsche, verführerische, aber köpfesammelnde Hexe gerät, dank der er seine Denkzwiebel so halb verliert – sie ist mittels der Nerven noch mit dem Körper verbunden, sollte aber natürlich nicht verschoben werden oder gar runterfallen, sondern ist es aus mit Tonio. Eine herrlich fiese Idee, die genießerisch ausgespielt wird. Als was ganz anderes, als ein überraschend melancholisches, eher leises Gespenster-Drama, entpuppt sich dagegen „Der lange Abschied“, in dem sich alles um den Tod und das Abschiednehmen dreht. „Der Spuk in der Amigara-Spalte“, eine seiner beliebtesten Kurzgeschichten, erzählt von einer durch ein Erdbeben freigelegten Spalte am Amigara-Berg, an der lauter Löcher in Menschenform zu sehen sind, die die zu ihnen passenden Menschen auf rätselhafte Weise anziehen. Wie bei „Tonio“: Unglaublich fiese Idee, exzellent ausgeführt – definitiv nichts für Menschen, die in engen Räumlichkeiten Panik kriegen. Letztere Geschichte stammt aus dem Band „Gyo“ und damit folgt nun ein Aspekt, der etwas weniger bekannt ist: Ito unternimmt gelegentlich Ausflüge ins Science-Fiction-Genre – womit wir dann wieder bei den langen Geschichten wären.
In „Gyo“ machen Kaori und Tadashi Urlaub auf Okinawa, doch der Urlaub wird schnell zu einem Trip durch die Hölle, denn plötzlich macht sich ein widerlicher Geruch breit und Fische auf einem seltsamen metallischen Laufgestell verlassen das Wasser und greifen Menschen an. Das Paar flieht zwar zurück nach Tokio, muss aber realisieren, dass es auch dort vor den seltsamen Kreaturen kein Entkommen gibt, die sich rasend schnell vermehren und sich zudem als zurückgekehrte Militärexperimente aus dem zweiten Weltkrieg entpuppen. Der von Steven Spielbergs Tierhorrorklassiker „Der weiße Hai“ (1975) inspirierte Sci-Fi-Schocker ist mitreißend und unglaublich bizarr (die Laufgestelle werden durch einen Bazillus betrieben, der Unmengen von unangenehm duftenden Gas produziert, dank dem den Körpern laufend Blähungen entweichen) und steht zuweilen kurz vor der Parodie, zumal Ito es prächtig versteht, auf die ohnehin schon extrem abgedrehte Grundidee immer noch eins draufzusetzen, kippt aber dennoch nie vollends ins Lächerliche – einzig das arg abrupte Ende verursacht Kopfschütteln.
„Remina“ wirkt nach dem frischen Eindruck der Corona-Pandemie noch bedrückender als ohnehin schon: In einem Japan der nahen Zukunft entdeckt Professor Oguro einen unbekannten Planeten, den er nach seiner Tochter benennt. Remina wird aufgrund dieser Benennung zum allseits umjubelten Star – doch die Stimmung kippt als entdeckt wird, dass der Himmelkörper der Erde näher kommt und auf dem Weg dahin alle Planeten, die seinen Weg kreuzen, verschlingt. Angst und Panik bricht aus und wie Menschen nun mal so sind, muss schnell irgendjemand Schuld haben, weswegen Remina, die für absolut gar nichts irgendwas kann, bald um ihr Leben fürchten muss. Die apokalyptische Story ist rasant, mitreißend und bedrückend, macht aber im letzten Drittel eine Kehrtwende in Richtung reine Phantastik, was angesichts des bis dato grimmig-realistischen Tonfalls wenig stimmig, sogar ein wenig albern anmutet.
Morgen folgt Teil 2 des Features, ein Gespräch mit Junji Ito.
Farbige Abbildung ganz oben, S. 10_Gyo Deluxe © 2002 JI Inc. © 2020 Carlsen Verlag GmbH.
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