29. August 2017 2 Likes

„Es geht um Bewältigung.“

Im Gespräch mit „Zeitkurier“-Autor Wesley Chu

Lesezeit: 6 min.

Wesley Chu  wurde 1976 in Taiwan geboren, lebt jedoch seit seinem sechsen Lebensjahr in den USA. Er absolvierte ein Informatikstudium und arbeitete als Berater, Banker, Schauspieler, Stuntman und Kung-Fu-Lehrer. Sein schwer unterhaltsames Science-Fiction-Romandebüt „Die Leben des Tao“ aus dem Jahre 2013 brachte ihm den John W. Campbell Award als bester neuer Autor und den Alex Award der Young Adult Library Services Association ein. Nach der „Tao“-Trilogie liegt mit „Zeitkurier“ (im Shop) nun der neueste Roman von Wesley Chu auf Deutsch vor. In der fernen Zukunft des bei Heyne erschienenen Buches ist die Erde weitgehend verwüstet, und James Griffin-Mars arbeitet als Chronaut, der auf seinen Missionen für gefährliche Bergungen von Gegenständen und Substanzen per Zeitreise in die Vergangenheit springt. Viele seiner durch Exo-Technologie verstärkten Kollegen begehen aufgrund ihrer Erlebnisse im Zeitstrom eher früher denn später Selbstmord, und auch James hängt bereits an der Flasche und eckt ständig mit seinen Vorgesetzten an. Als er das erste Zeitgesetz bricht, eine Wissenschaftlerin aus der Vergangenheit rettet und mit in seine Zukunft nimmt, wird James’ Lage brenzliger denn je. Blockbuster-Regisseur Michael Bay will den Serienauftakt „Zeitkurier“ verfilmen, und bei der Lektüre des Buches kann man schnell nachvollziehen, wieso es in Hollywoods kreativen Köpfen sofort Klick! gemacht hat. Im Interview spricht Wesley Chu über die Inspiration zu seinem innovativen Genre-Roman, seine liebste Zeitreise-Geschichte und einiges mehr.

Hallo Wes. Wenn du eine Zeitreise in Auftrag geben könntest, um etwas aus der Vergangenheit zu bergen – was wäre das?

Okay, ich muss etwas gestehen. Ich bin meinem Airedale Terrier Eva in der Hinsicht äußerst ähnlich, als dass wir beide stark auf Leckerli fokussiert sind. Und wenn ich Leckerli sage, dann meine ich, dass ich ein gieriger Kerl bin, weshalb ich für gewöhnlich jede hypothetische Frage nehme und herauszufinden versuche, wie ich das meiste Geld herausholen könnte. Wenn ich zum Beispiel irgendeine Art von Superkraft erhalten sollte, würde ich all meine Zeit darauf verwenden, rauszukriegen, wie man Banken ausraubt, oder meine Dienste an den Höchstbietenden verkaufen, anstatt zu versuchen, die Welt zu retten. Im Grunde bin ich die Sorte zweitklassiger Superschurke, die Spider-Man ständig verprügelt und an einen Laternenpfahl hängt. Was würde ich also aus der Vergangenheit bergen lassen? Hmmm, ein Sportalmanach klingt nach einer verdammt guten Idee.

Ist die Menschheit, die in „Zeitkurier“ ihre Vergangenheit ausbeutet, eine zynische Metapher für uns, die wir unseren Planeten schon jetzt nach und nach zu der kaputten Erde machen, die du in der Zukunft des Buches beschreibst?

Ehrlich gesagt, klingt es nur nach einer richtig guten und sinnvollen Anwendungsmöglichkeit von Zeitreisen, im Gegensatz zu den typischen Sachen, die man in Filmen sieht. Die nichtzynische Version der Geschichte, wie mir die Idee zum Buch kam, ist die: Ich las einen Artikel über einen südafrikanischen Fotojournalisten namens Kevin Carter. Er hat ein ikonisches Foto eines Kindes während der Hungersnot im Sudan geschossen, das auf eine Hilfsstation zu kriecht. Hinter dem Kind hüpft ein Geier her, der nur darauf wartet, dass es stirbt. Zum damaligen Zeitpunkt dachte Kevin, dass es sein Job sei, die Geschehnisse zu dokumentieren, aber nicht einzugreifen. Er schoss das Foto und ging. Er gewann einen Pulitzer, wurde von den Dingen verfolgt, die er gesehen hat, und beging ein paar Monate später Selbstmord. Einige der Details sind umstritten, doch das ist die Version, die ich gelesen habe. Je mehr ich die Idee von Zeitreisenden (Chronauten, wie ich sie nannte) erforschte, die in die Vergangenheit reisen und den letzten schrecklichen Augenblicken im Leben irgendeines Menschen beiwohnen, desto mehr sah ich Kevin Carters vor mir; Menschen, deren Berufe ihnen einen Sitz in der ersten Reihe furchtbarer Ereignisse bescheren, doch die nicht willens sind, einzugreifen. Ich fing an, über den mentalen Tribut nachzudenken, den das fordert. Wie meistern sie das? Was passiert, wenn sie zerbrechen? Am Ende ist „Zeitkurier“ kein Roman über Zeitreisen oder Ressourcen oder das Retten der Welt (obwohl die Welt Rettung braucht). In „Zeitkurier“ geht es um Bewältigung und darum, wie wir mit Schmerz, Trauer und Bedauern umgehen und hoffentlich die Erlösung erlangen, die Kevin Carter nie fand.

Welches klassische Zeitreise-Buch hatte den größten Einfluss auf dich?

Wenn ich mich strikt an deine Vorgabe halten und ein Buch auswählen muss, dann würde ich sagen: „Replay – Das zweite Spiel“ von Ken Grimwood (im Shop). Es ist ein sensationelles Buch. Passt auf, Leser, wenn ihr nur ein einziges Zeitreise-Buch lesen könnt, dann lest „Replay“. Wenn ihr zwei Zeitreise-Bücher lesen könnt, okay, dann bitte lest „Zeitkurier“ (lacht).

Dein Protagonist James riskiert alles für eine Frau. Hast du jemals etwas dummes für eine Frau getan?

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, wenn es um all die vielen dummen, idiotischen, selbstmörderischen, geradeheraus vertrottelten Dinge geht, die ich je für eine Frau getan habe. Ich wette, das hat jeder, für einen geliebten Menschen oder sogar für jemanden, der einem gar nicht mal so viel bedeutet hat. Ich glaube gerne, dass ich ein rationales und ausgeglichenes Individuum bin, und größtenteils bin ich das auch. Aber früher, bevor ich mich häuslich niedergelassen habe, war ich ein leichtsinniger Idiot.

Würdest du Roen aus den „Tao“-Büchern und James aus „Zeitkurier“, die beide viele Fehler machen, als clevere Helden bezeichnen?

Ich würde nicht sagen, dass sie nicht clever sind. Ich sehe es lieber so, dass Roen und James ehrlich handeln, was manchmal impulsiv oder emotional sein kann, oftmals ohne die Dinge bis zum Ende durchzudenken. In meinen Augen gilt das für die meisten Menschen. Die beiden haben nicht immer den Luxus, sich hinzusetzen und jede Entscheidung zu überdenken, besonders nicht in Zeiten von Krieg und Konflikt. In einer perfekten Welt sind wir alle Vulkanier und treffen unsere Entscheidungen allesamt aufgrund von Logik. In der Wirklichkeit sind wir jedoch häufig irrationale Geschöpfe, die für den Moment leicht von Liebe oder Hass oder unserer gegenwärtigen Stimmung beherrscht werden. Ich habe seit Beginn dieses Interviews beispielsweise eine halbe Packung Kekse gegessen. Ich weiß, dass ich das nicht sollte, aber Pfefferminzkekse sind so lecker. Es heißt aber auch immer, dass ein Autor nie eine Figur schreiben kann, die schlauer ist als der Autor selbst. Vielleicht bin ich einfach nicht so clever.

In „Zeitkurier“ nimmt der Humor weniger Raum ein als in der „Tao“-Trilogie, dafür ist das Worldbuilding wesentlich üppiger ausgefallen. Hast du diese Abwechslung im Ton gebraucht, um es für dich interessant zu halten und deine ganze Bandbreite zu zeigen?

Ich hatte ursprünglich nie die Absicht, loszuziehen und mit „Zeitkurier“ eine düstere und dystopische Geschichte zu verfassen. Die Einzelheiten dieser Welt verlangten eine andere Art von Figuren als die, die ich für die Tao-Bücher erschaffen habe. Allerdings ist es erfrischend, verschiedene Erzähltöne auszuprobieren. Ich halte mich selbst gerne für einen vielseitigen Autor, der viele verschiedene Charaktere ersinnen kann.

Du hast nach wie vor eine Hauptfigur, nutzt aber verschiedene Perspektiven, um deine Geschichte zu erzählen …

In Romanen geht es um Konflikte. Und wie in den meisten Konflikten, ist es notwendig, die Standpunkte aller Seiten zu sichten, um die gesamte Geschichte zu erfassen und das Drama zu verstehen. Außerdem ist es wesentlich spaßiger, manchmal im Kopf des Bösewichts zu leben.

Alkoholismus ist ein Thema in deiner Zeitreise-Serie. Findest du, dass es heute zu sehr verharmlost wird?

Ich weiß nicht, ob es verharmlost wird, aber ich habe das Gefühl, dass es nicht wirklich erkundet wurde. Genau das habe ich in der Fortsetzung von „Zeitkurier“ getan, und verschiedene Leser sagten mir, dass dabei eine äußerst akkurate und aufrichtig Darstellung der Krankheit herauskam. Das ist eines der größten Komplimente, die man als Autor bekommen kann.

Stuntman, Schauspieler, Kung-Fu-Meister, Berater – von welchem deiner Berufe profitierst du beim Schreiben am häufigsten?

Ich nehme all meine Lebenserfahrungen und träufle sie in meine Geschichten, einschließlich der kleinen Details. Wie damals, als ich von einem hohen Zaun fiel und mir das Handgelenk brach. Oder die Gehirnerschütterungen, die ich während des Sparrings davontrug. Oder das eine Mal, als ich an einem Steilhang des Kilimandscharo campierte und daran dachte, mitten in der Nacht aus meinem Zelt zu rollen. Das Leben ist interessant und voller Schmankerl. Ein Autor sollte stets seine persönlichen Erfahrungen nutzen, um seine Geschichten zum Leben zu erwecken. Müsste ich einen Beruf herauspicken, von dem meine Arbeit als Autor am massivsten profitiert, wäre das mein täglicher Job. Ich schreibe von einem dunklen Ort aus, wo mein wichtigstes Karriereziel darin besteht, nie wieder in diesen täglichen Job zurückzumüssen. Verzweiflung ist ein höllischer Antrieb.

Kannst du uns zum Abschluss etwas über den Stand der „Zeitkurier“-Verfilmung verraten?

Ich wünschte wirklich, ich könnte, aber ich darf nicht darüber sprechen (lächelt).

Autorenfotos: Michael Chu

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.