„Ich würde es als surreal beschreiben.“
Im Gespräch mit Jeff VanderMeer („Auslöschung“, „The Big Book of Science Fiction“)
Jeff VanderMeer wurde 1968 in Bellefonte, Pennsylvania geboren, wuchs jedoch auf den Fidschi-Inseln auf und bereiste mit seinen Eltern, die beim Friedenskorps waren, früh die ganze Welt. Er ist Autor, Herausgeber, Redakteur, Kritiker, Essayist, Redner sowie Lehrer für kreatives Schreiben. Zu den Büchern des Amerikaners, der bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde und es auf die New-York-Times-Bestsellerliste schaffte, zählen „Stadt der Heiligen und Verrückten“, „Shriek“, die Storysammlung „Ein Herz für Lukretia“ und der Schreibratgeber „Wonderbook“. Zudem gab er zusammen mit seiner Frau Ann und anderen schon mehrere starke Genre-Anthologien wie „The Big Book of Science Ficiton“ oder „The Thackery T. Lambshead Pocket Guide to Eccentric & Discredited Diseases“ heraus. Keine Frage: Jeff VanderMeer ist einer der wichtigsten Vertreter der modernen Fantastik und der Weird Fiction, die alle Strömungen des Genres vermischt. Große Aufmerksamkeit erhielt Mr. VanderMeer in den letzten Jahren für seine brillante „Southern Reach“-Trilogie um die Science-Fiction-Horror-Romane „Auslöschung“, „Autorität“ und „Akzeptanz“. Der Dreiteiler dreht sich um Area X, ein mysteriöses Habitat voller urwüchsiger Natur, Fremdartigkeit, Metamorphosen, Rätsel und Gefahren. Mit Expeditionen und Forschungen versucht die Regierungsbehörde Southern Reach seit 30 Jahren zu ergründen, was Area X wirklich ist, und wird dabei mehr und mehr von jenseits der Grenze zu Area X unterwandert, konsumiert und sogar kolonialisiert. Auf Deutsch erschien die Trilogie zunächst im Verlag Antje Kunstmann. Mit der Verfilmung des ersten Buches „Annihilation“ durch Regisseur Alex „Ex Machina“ Garland und mit u. a. Natalie Portman und Oscar Isaac vor Augen, folgt ab März eine Taschenbuch-Neuausgabe bei Droemer Knaur. Im Interview spricht Jeff VanderMeer über Area X, die Symbiose aus Arbeit und Liebe und natürlich die Verfilmung seines mit dem Nebula und dem Shirley Jackson Award prämierten Romans, der in fast 30 Ländern veröffentlicht worden ist.
Hallo Jeff. Wie planst du als Autor ein umfangreiches Projekt vom Kaliber der „Southern Reach“-Trilogie?
Wenn ich einen Roman abschließe, habe ich entweder einen größeren Handlungsbogen im Kopf, oder nicht. Ist dem so, dann meist auf einem Detail-Level, das mir viel Exploration erlaubt, wenn ich tatsächlich ein zweites oder drittes Buch schreibe. Im Fall der „Southern Reach-Trilogie wusste ich auf halbem Weg durch „Auslöschung“, dass die Geschichte mehr hergab als einen Roman.
Ich schreibe keine Outlines – ich habe lediglich eine lose Abfolge von Szenen, von denen ich denke, dass sie in einer bestimmten Struktur eintreten. Struktur steht hierbei für ein 3D-Modell, das in meinen Gedanken rotiert. Die Struktur von „Akzeptanz“ stellte ich mir z. B. wie einen Seestern vor, mit einem zentralen Hub und davon ausgehenden Armen.
Kurz gesagt: Ich schätze es, sowohl organisch als auch strukturiert zu arbeiten, und innerhalb der Spannung zwischen diesen beiden Ansätzen komme ich weiter, als wenn ich lediglich einen Ansatz nutzen würde. Beim Organischen gibt es jedoch das Problem, dass das Erzählte zu traumhaft erscheinen kann, wenn man im Herzen ein Surrealist und Absurdist ist.
Verlierst du dich beim Schreiben solch intensiver Romane in ihnen?
Das tue ich. Auch in der Überarbeitung, die ich als Re-Imagination dessen empfinde, woran ich arbeite. Ich bin dann komplett vom Internet getrennt und schreibe oft von Hand anstatt am Computer. Besonders während der Arbeit an „Autorität“, worin viel im Hintergrund geschieht, war das notwendig, sonst hätte das Buch nicht funktioniert. Ich betreibe auch Method Acting, um es mal so auszudrücken. So versuchte ich zum Beispiel, meinen eigenen Alltag in der Persönlichkeit meiner Figur Control zu bestreiten, und es gibt Szenen in „Autorität“, die ich nachgespielt habe. Ich brach genauso in mein eigenes Haus ein, wie Control in das Haus der ehemaligen Direktorin. Es geht also um das Versinken im Schreiben dieser Szenen, aber auch das Versinken in der Welt, um sie zu schreiben. Ich möchte nicht, dass nur ein einziges Detail der echten Welt in den Büchern aus zweiter Hand stammt. Selbst das Finden einer toten Maus und einer Pflanze in einer Schublade ist mir passiert, genauso wie mich schon jemand fragte, ob ich einen seltsamen Raum sehen wolle. Während meine vorherige Serie von viel Fiction beeinflusst wurde, wurde diese sehr vom echtem Leben beeinflusst.
Jeder Teil der Trilogie ist in einem anderen Stil geschrieben. Ist so eine Idee schwer zu verkaufen?
Ich wusste, dass der stark literarische Ruf meines US-Verlages Farrar, Straus and Giroux (FSG) bedeutete, dass ich mir nicht mal irgendwo im Hinterkopf Gedanken über den Druck machen müsste, aus kommerziellen Gründen drei identische Bücher zu schreiben. Und das war gut, da es mich langweilte, mich selbst zu wiederholen, und der Sinn dieser Trilogie darin bestand, aus vielen verschiedenen Perspektiven auf eine Situation zu blicken, und jedes Mal mehr Details, Antworten und Charakter-Nuancen hinzuzufügen. Die Erfahrung war also ebenso intensiv wie angenehm. Und dann fanden wir Verlage in anderen Ländern, die diese Hingabe und Vision teilten.
Profitieren deine Romane von deiner Tätigkeit als Herausgeber und Lektor?
Womöglich habe ich mehr Geduld mit mir selbst? Ich weiß, dass die Rohfassung nicht alles ist, genauso wenig wie die finale Fassung, die ich meinem Lektor schicke? Andererseits habe ich als Lektor meine eigene Trickkiste, um Autoren zu motivieren; wenn ein anderer Lektor also seine Tricks auf mich als Autor anwendet, gibt es diesen witzigen Moment, wo ich versuche zu vergessen, dass ich (positiv) manipuliert werde. Bei FSG habe ich einen meisterhaften Lektor. Es fühlte sich an, in einem Schachspiel oder einem Martial-Arts-Kampf zwei Züge zurückzuliegen. Das sorgte dafür, dass ich mich entspannte und wohlfühlte. Es ist sehr gut, wenn das Fu deines Lektors besser ist als dein eigenes Lektoren-Kung-Fu.
Mit deiner Frau Ann hast du vor einer Weile die riesige Anthologie The Big Book of Science Fiction herausgegeben. Was war die größte Überraschung bei der Arbeit am Buch?
Welche Klassiker standhalten, und welche nicht, und wie stark lateinamerikanische und russische SF sind, die allerdings von der amerikanischen SF-Gemeinde nicht anerkannt wurden. Es war schockierend, zu sehen, was für mittelmäßige SF-Kurzgeschichten aus den USA im Vergleich mit internationalen Geschichten als überlegen angesehen werden, allein weil die kommerzielle amerikanische SF bloß eine Sicht akzeptiert, wenn es um Plot oder Erzählweise geht. Doch das ist eine fortlaufende Erkundung – die per Definition immer ein wenig unvollständig sein wird. Mit jedem Projekt dieser Art füllen wir weitere Lücken. So eine Aufholjagd ist schwierig und zeitintensiv. Wir tun es jedoch auch, weil es unsere Leben bereichert. Alles wird davon bereichert, wenn wir über uns selbst, das Vertraute und unsere Türschwelle hinausschauen.
Wie funktioniert euer System des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens als Ehepaar?
Es funktioniert zum Teil deshalb, weil wir streiten und dann neustarten. Nichts gärt und fault, und wir respektieren die Meinung des anderen. Wir müssen darauf achten, Freizeit einzuplanen, denn wenn du in Vollzeit etwas tust, das du liebst, vergisst du manchmal, den Aus-Schalter zu drücken. Darum haben wir die Tradition, sonntags einen Tagestrip zu machen und wenig bekannte Plätze an Floridas Golfküste zu erkunden. Wir reisen prima zusammen, was man nicht über alle Paare sagen kann. Es hilft außerdem, dass wir dieselben Filme und Serien mögen. Was alles zusammen so viel heißen soll wie: Wenn es so etwas wie Seelengefährten gibt, dann sind wir das.
Und jetzt wird auch noch „Auslöschung“ verfilmt. Kannst du beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn aus dem eigenen Roman ein großer Film wird?
Ich würde es als surreal beschreiben, weil es ein anderes Bild als das in deinem Kopf erschafft, und manchmal dann ein Spiegelbild, sodass der Film gleichzeitig die Geschichte und nicht die Geschichte ist, die du erzählt hast. In Wahrheit ist der Film ein Doppelgänger. Ich muss überlegen, ob Area X den Film über die Grenze geschickt hat, um zu kolonialisieren, oder es in Wahrheit den Roman geschickt hat.
Wie war es am Set für dich?
Da es mir möglich war, das Set sowohl in den Pinewood Studios als auch draußen im sumpfigen Abschnitt eines landwirtschaftlichen Gebiets nördlich von London zu besuchen, kann ich sagen, dass da ein Regisseur und ein Team von Filmemachern mit einem übergenauen Auge für Details und mit gewaltiger Vorstellungskraft und Liebe für Filme am Werk sind. Das hohe Niveau an fantasievollem Denken bei der Übersetzung der Bilder und Ideen aus dem Buch in einen Film hat mich überwältigt. Das gilt auch für den Dreh in England anstatt in Florida, da die Sümpfe in Florida so dicht sind, dass sie für die Kamera wie eine undurchdringliche Wand aussehen. Deshalb ‚verkleideten’ sie stattdessen ein englisches Marschland, um die richtige Tiefenwahrnehmung zu bekommen. Die Produktionsfotos, die ich vom Ergebnis gesehen habe, waren umwerfend.
Hat sich während deiner Besuche bei der Crew etwas Besonderes ereignet?
Das witzigste Moment war wohl, als Alex Garland mich und meine Frau an dem Drehort herumführte, wo sie eine verlassene Florida-Stadt nachgebaut haben, und mir die falsche Kudzu und die flechtenverkrusteten Briefkästen zeigte. Ich sagte ihm, dass einer der Briefkästen genauso ramponiert und flechtenverkrustet aussähe wie unser eigener am Haus in Tallahassee, und er sah mich schief an, nach dem Motto, ‚Habt ihr mal dran gedacht, ihn sauber zu machen?’. Nun, das haben wir, doch die Flechten wären am nächsten Tag sofort wieder da.
Ich würde auch sagen, dass der Cast äußerst liebenswert und talentiert ist. Ich war ziemlich sprachlos, als ich am Set ankam und Tessa Thompson und Gina Rodriguez mich jeweils mit einer dicken Umarmung begrüßten und nicht nur über den ersten Roman zu reden begannen, sondern auch über „Autorität“ und „Akzeptanz“. Es hat mich außerdem sehr berührt, dass Tessa die Trilogie sogar ihrer Familie geschenkt hat.
Welchen Einfluss hat die Verfilmung auf deine Arbeit, deine Karriere und nicht zuletzt dein Leben?
Wäre die „Southern Reach“-Trilogie nur in den Vereinigten Staaten ein so großer Erfolg gewesen, wie sie es war, wäre das schon genug gewesen. Doch die Tatsache, dass sie in dermaßen viele Sprachen übersetzt wurde und jetzt ein Film herauskommt, hat sozusagen etwas geöffnet. Für meinen neuen Roman „Borne“ gibt es bereits einen Filmdeal mit Paramount, und mehr ist in Arbeit. Ich wollte sowohl in meinem kreativen als auch in meinem beruflichen Leben immer das höchste Verhältnis von Risiko und Belohnung, und das hat es mir ermöglicht, genau hier und jetzt zu stehen und zu leben. Und jetzt lege ich erst so richtig los – Geschichten strömen nur so aus mir heraus, und ihr könnt bald neue Projektankündigungen erwarten.
Gibt es noch etwas, das du deinen deutschen Fans sagen möchtest?
Ich bin meinem deutschen Verlag sehr dankbar dafür, Area X auf so liebevolle und wunderbare Art und Weise veröffentlicht zu haben. Der Brief mit dem Angebot von meinem deutschen Lektor, in dem er beschreibt, wie er „Auslöschung“ las und die Welt sich auf seiner Heimfahrt scheinbar verändert hatte, ist einer meiner Schätze, den ich immer auf meinem Schreibtisch habe.
Autorenfoto © 2014 Kyle Cassidy
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