6. Juli 2020

Hacken und Schreiben

Was Science-Fiction-Autoren von Programmieren und anderen Computerfreaks lernen können

Lesezeit: 7 min.

Im Jahre 1991 habe ich zwei Werke von Bruce Sterling gelesen, die meine berufliche und literarische Laufbahn für immer verändern sollten. Das erste war das „Turkey City Lexicon“, das Sterling zusammen mit Lewis Shiner verfasst hatte – ein Online-Klassiker, der 1991 in gedruckter Form bei Pulphouse erschien und Teil des Willkommenspakets war, das ich als frischgebackenes Mitglied der Science Fiction and Fantasy Writers of America zugeschickt bekam. Das zweite Werk war ein gedrucktes Buch, das zum Online-Klassiker werden sollte: Bruce Sterlings Debüt „The Hacker Crackdown“. Ein Verlagsvertreter brachte ein Leseexemplar bei Bakka vorbei, der Science-Fiction-Buchhandlung, in der ich damals arbeitete. Ich schnappte es mir, bevor es jemand anderes in die Finger bekam. Diese beiden Werke beeinflussten mich auf tiefgreifende und völlig unterschiedliche Weise. Dass es da doch einen Zusammenhang gab, wurde mir erst im letzten September bewusst, als ich auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik einen Schreibworkshop leitete.

Okay, das muss ich wohl genauer erklären.

Das „Turkey City Lexicon“ ist ein Glossar von Fachbegriffen der Science-Fiction-Literatur, entstanden im Rahmen des Turkey City Workshop, einem seit 1973 stattfindenden Seminar für SF-Schriftsteller. Das Lexicon wurde 1988 von Lewis Shiner zusammengestellt und 1990 von Bruce Sterling überarbeitet und ergänzt. Es erschien zuerst im Magazin Interzone und dann online als „freie Literatursoftware“ und beinhaltet klassische Schriftstellerratschläge (wie etwa „Show, don‘t tell“) sowie bestimmte, nur in der Science-Fiction vorkommende Schreibsünden (zum Beispiel „Einen Hasen als Smeerp bezeichnen: eine billige Strategie zur Erzeugung von falschem Exotismus, indem bekannte Elemente unserer Welt lediglich neu benannt werden, um sie als Teil einer fantastischen Welt zu kennzeichnen“).

Für mich als Nachwuchsschriftsteller auf der Suche nach Geheimtipps zur Erlangung literarischen Ruhms war dieses Lexikon das Handbuch, nach dem ich mein ganzes Leben lang gesucht hatte. Wenn ich mich nur an diese Regeln hielte, so dachte ich, würde ich genauso gut werden wie die Teilnehmer des berühmten Turkey City Workshop, der als Wiege des Cyberpunk gilt.

Ich trug das Lexicon im buchstäblichen wie übertragenen Sinn jahrzehntelang mit mir herum. Wenn ich mich in Toronto mit den Cecil Street Irregulars zum Workshop traf, berief ich mich oft auf seine Terminologie und seine Konzepte, um herauszuarbeiten, warum eine Geschichte nicht so gut funktionierte, wie sie sollte. Als ich dann 1992 am Clarion Workshop teilnahm, langweilte ich die anderen Teilnehmer zu Tode, indem ich während der Diskussionsrunden aus dem Lexicon zitierte, als wäre es die Heilige Schrift. In den folgenden Jahren blieb das Lexicon mein ständiger Begleiter, sowohl in der Praxis auch bei der Lösung schriftstellerischer Probleme. Als ich dann selbst Dozent beim Clarion Workshop wurde, erklärte ich das Lexicon zur Pflichtlektüre und machte in den Diskussionsrunden regen Gebrauch davon.

Im Laufe der Zeit lernte ich nicht nur viele brillante Schriftsteller kennen, die das Lexicon aus tiefstem Herzen verabscheuten (beispielsweise Kim Stanley Robinson), ich las auch bergeweise herausragender Science-Fiction, die gegen eine oder mehrere der dort aufgestellten Regeln verstießen. Gottlob war die Phase, in der ich das Lexicon als der Weisheit letzter Schluss betrachtete, schnell vorüber. Trotzdem – die Regeln kamen mir nach wie vor vernünftig vor, und sie zu brechen war einfach falsch.

1991 war ein wichtiges Jahr für Bruce Sterling. Sein Debüt, das Sachbuch „The Hacker Crackdown“, erzählt die Geschichte der Operation Sundevil, einer vom Secret Service im Jahr 1990 durchgeführten Anti-Hacker-Aktion, bei der es auch zu einer bizarren Razzia beim Spielehersteller Steve Jackson Games kam, wobei das Manuskript der „GURPS Cyberpunk“-Spielwelterweiterung beschlagnahmt wurde. Der Secret Service bezeichnete das Buch in der Öffentlichkeit allen Ernstes als einen „Leitfaden für Computerkriminelle“. (GURPS steht für „Generic Universal Role-Playing System“ und ist ein Pen&Paper-Rollenspiel-System, dessen Spielwelterweiterungen verschiedene Milieus beschreiben, in denen die Spieler ihre fiktiven Abenteuer ansiedeln können. „GURPS Cyberpunk“ sollte es den Spielern ermöglichen, in die Haut von Figuren zu schlüpfen, die denen aus Sterlings Büchern ähneln.)

In „The Hacker Crackdown“ ging es außerdem um die Gründung der Electronic Frontier Foundation, einer gemeinnützigen Organisation, die ursprünglich als „Hackerverteidigungsfonds“ für jene Leute gedacht war, die im Zuge der Operation Sundevil in juristische Schwierigkeiten geraten waren, sich aber schon bald zur weltweit führenden digitalen Bürgerrechtsorganisation entwickelte. Die Zielsetzung der EFF – dafür zu sorgen, dass die Menschen- und Bürgerrechte, die wir für so selbstverständlich halten, auch den Sprung in die digitale Welt schaffen – stellte eine ebenso große Inspiration für mich dar wie Sterlings poetische Beschreibungen der Hacker-Szene, die dem Secret Service so große Angst einjagte, dass er landesweite Razzien initiierte. Und nicht zuletzt war „The Hacker Crackdown“ eines der ersten von einem großen Verlag herausgegebenen Bücher, das zur freien Weiterverbreitung online veröffentlicht wurde – mehr als zehn Jahre vor der Creative-Commons-Initiative. Bruce Sterling nannte es „literarische Freeware“, und es wurde ein wichtiger Bezugspunkt der im Entstehen begriffenen Onlinekultur.

Zehn Jahre später arbeitete ich für die Electronic Frontier Foundation, veröffentlichte unter der Creative-Commons-Lizenz und lernte die Hacker aus „The Hacker Crackdown“ und ihre Nachfolger kennen. Einer dieser Hacker landete bei einem US-Geheimdienst, wo er Spionagesoftware entwickelte. Als ich Jahre später wegen einer ganz anderen Angelegenheit mit ihm telefonierte, kamen wir auch auf diese Top-Secret-Arbeit zu sprechen. Was er erzählte, war überaus faszinierend: Er und sein Team erhielt einen Anruf von einem Agenten, der ankündigte, dass sich der Geheimdienst demnächst Zugang zu einer bestimmten Einrichtung (beispielsweise einer ausländischen Botschaft) verschaffen würde. Hierzu benötigte er eine bestimmte Schadsoftware, mit der ein Gerät in dieser Einrichtung übernommen und von dort aus das ganze Netzwerk infiltriert werden sollte. Das Team des Hackers erstellte eine Liste aller in der Einrichtung vorhandenen Geräte, soweit bekannt, und besorgte sich Testmuster. Sie kopierten das Betriebssystem dieser Geräte auf ihre Diagnosesysteme und analysierten es im Hinblick auf die verwendeten Codebibliotheken – das ist möglich, indem man den kompilierten Code auf bestimmte verräterische Eigenschaften durchforstet. Das Hackerteam verfügte über eine Liste derjenigen Codebibliotheken, die nur schwer ohne fatale Sicherheitslücken zu implementieren waren. Mithilfe dieser Liste konnten sie die Zielgeräte nach der Wahrscheinlichkeit sortieren, mit der den Programmierern der zugehörigen Firmware ein kritischer Fehler unterlaufen war, und wussten damit, welche Geräte am anfälligsten für ihre Angriffe waren. Dabei interessierte die Hacker weder Ruf noch Erfolgsbilanz des Herstellers oder wie gut die Programmierer waren, sondern allein die Schwierigkeit, den Programmiercode abzusichern.

Um zu verstehen, weshalb das funktioniert, sehen wir uns folgende Berufe an: Schwertjongleur, Testpilot, Taxifahrer, Science-Fiction-Autor. Sie sind bestimmt in der Lage, ohne jede weitere Information über die Personen, die diese Tätigkeiten ausüben, eine Vermutung darüber anzustellen, welche davon das größte Verletzungsrisiko birgt. Selbstverständlich variieren die individuellen Umstände (manche Testpiloten leben ein langes und gesundes Leben, während es durchaus vorstellbar ist, dass eine Science-Fiction-Autorin bei der Reparatur der Stromleitungen in ihrer Garage oder ihrem Büro ein frühes Ende durch einen Elektroschock nimmt), aber statistisch gesehen lässt sich deutlich feststellen, dass gewisse Jobs mit weniger Risiken behaftet sind als andere.

Und nun kommen wir zu meinem Workshop auf dem Kreuzfahrtschiff und der Erkenntnis, die ich hatte, als ich über die Methode dieser Hacker und den Turkey City Workshop nachdachte. In einem Einzelgespräch, das ich mit einer äußerst vielversprechenden Nachwuchsschriftstellerin führte, ging es auch um Regeln wie „Show, don’t tell“, warum die Ersetzung des Wortes „sagte“ (was das Lexicon als das Sagte-Synonym-Syndrom bezeichnet), oder ein „sagte“, gefolgt von einem Adverb (ein sogenannter Tom Swifty, nach einer Jugendbuchreihe, in der das Phänomen verstärkt zu beobachten war), zu vermeiden sind und so weiter. (Um das zu verdeutlichen, ein Beispiel: Im Satz „‚Geh nicht‘, keuchte sie ängstlich“ ist „keuchte“ das Sagte-Synonym und „ängstlich“ der Tom Swifty). Sie wies zurecht darauf hin, dass ich diese Regeln in vielen meiner Romane breche, sie diese aber trotzdem mit Vergnügen gelesen hätte – nicht trotz, sondern gerade wegen dieser „Fehler“.

Da ging mir plötzlich ein Licht auf. Der Grund dafür, dass die im „Turkey City Lexicon“ aufgestellten Regeln so brauchbar sind, um die Schwachstellen in einer Science-Fiction-Geschichte zu finden, gleichzeitig aber in vielen beliebten Romanen ungestraft gebrochen werden, lautet: Es sind gar keine Regeln. Es sind nur Elemente, die schwer zu meistern sind.

Nehmen wir das bereits angesprochene Sagte-Synonym-Syndrom. Die Verwendung eines beschreibenden Verbs statt „sagte“ in einem Dialog ist für den faulen Schreiberling eine große Versuchung. Es ist viel einfacher, dem Leser mit einem Verb zu erklären, auf welche Weise eine Figur etwas sagt, als dies durch ihre Worte selbst zum Ausdruck zu bringen. Einen Dialog mit unmissverständlichem Kontext zu schreiben, ist nicht einfach, aber es lohnt sich. Beschreibende Verben dagegen schwächen eine Geschichte.

Das ist natürlich nicht immer der Fall. Manchmal geht auch beides, gelegentlich verstärkt eines sogar das andere: „‚Ich liebe dich‘, log er.“ Sich in der Wahl der beschreibenden Verben zu beschränken, erfordert Disziplin vom Schriftsteller, aber die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs steigt und die Chancen des Scheiterns schwinden.

Ein anderes Beispiel: Expositionsszenen, die ich gerne lese und gerne schreibe – wenn sie gut sind. In Neal Stephensons „Cryptonomicon“, Scott Westerfelds „Peeps“ oder in „Moby Dick“ gibt es unglaublich technische und dabei hochinteressante Expositionspassagen. Der im Lexicon zu findende Vorbehalt gegenüber der Exposition an sich ist also keine Regel, sondern eine Warnung: Gute Expositionsszenen sind angenehm zu lesen, allerdings sind die meisten dieser Szenen nicht gut, und eine schlechte Exposition ist grauenhaft.

Zugegeben, es hat eine Weile gedauert, bis ich zu diesem Schluss kam. Wahrscheinlich, weil es landläufig so schön heißt: „Um die Regeln brechen zu können, muss man sie erst beherrschen“. Das hat mich abgelenkt. Hätten die Autoren stattdessen gesagt: „So etwas hinzubekommen ist nicht einfach, wenn es nicht klappt, ist es besser, es mit etwas Einfacherem zu versuchen“, hätte mich diese Offenbarung schon viel früher ereilt.

Jedenfalls werde ich von jetzt an versuchen, meinen Schülern genau das beizubringen.

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Sein Roman „Walkaway“ ist im Shop erhältlich. Zuletzt erschien bei Heyne seine Novelle „Wie man einen Toaster überlistet“ (im Shop).

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