21. Januar 2019 3 Likes

Von Mensch zu Mensch

Ist das Internet eine revolutionäre Erfindung?

Lesezeit: 5 min.

Das Internet basiert auf einem revolutionären Prinzip, es funktioniert mithilfe einer revolutionären Technologie, und es ermöglicht eine revolutionäre Kommunikation. Ist es deshalb revolutionär?

Das revolutionäre Prinzip, auf dem das Internet basiert, ist die sogenannte End-to-End-Verbindung, die eine Kommunikation zwischen zwei Personen ohne die Einwilligung eines Mittelsmanns ermöglicht. Wenn Sie sich mit meinem Webserver verbinden wollen, können Sie das tun, ohne Fernverbindungsgebühren zu bezahlen oder Ihren Internetprovider um Erlaubnis zu bitten. Sobald jemand eine neue Kommunikationsform wie etwa Skype oder BitTorrent oder das Interplanetary File System (das gibt es wirklich und ist eine tolle Sache, überzeugen Sie sich selbst) erfindet, können Sie diese sofort nutzen und mit allen in Kontakt treten, die dies ebenfalls tun – ganz ohne Genehmigung Ihrer Telefongesellschaft.

Das ist revolutionär, weil es die sogenannte „Leitungsvermittlung“ ersetzt, bei der sämtliche Verbindungen über eine Zentralstelle – die jeweilige Telefongesellschaft – laufen und nur eine Kommunikationsform – Sprache – erlaubt ist. Alle „Zusatzfunktionen“ eines solchen Systems wie Fax, Modem, Anrufbeantworter oder auch das sogenannte „Hush-a-Phone“ (ein Plastikteil, das man auf die Sprechmuschel steckte, damit niemand das Gespräch mithören konnte) waren gebührenpflichtig. Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch, dass auch die Anzeige der anrufenden Nummer mit Kosten verbunden war – das ist in ungefähr so, als würde Ihnen Ihr Provider den Absender einer E-Mail nur gegen Aufpreis verraten.

Das revolutionäre End-to-End-Prinzip hat die Telekommunikation tiefgreifend verändert und zur Entwicklung neuer, noch nie dagewesener Dienste auf Basis des Telefonnetzes geführt. Und immer so weiter – bis das Telefonnetz selbst durch das Internet abgelöst wurde. Heute ist ein Telefongespräch ein Relikt aus vergangenen Zeiten, das als kleiner Teil eines gewaltigen Datenstroms durch die Fiberglaskabel rauscht.

Auch der Computer funktioniert nach einem revolutionären Prinzip. Die „Universelle Turingmaschine“ beschreibt die theoretische Architektur eines jeden heute existierenden Computers ebenso wie ein System, das den Bau eines Computers ermöglicht, mit dem man alles berechnen kann. Jedes Programm, das mittels mathematischer Logik ausgedrückt werden kann, kann auch auf jedem Computer ausgeführt werden. Ältere Computer brauchen dafür womöglich Jahrhunderte, moderne nur einen Sekundenbruchteil. Dennoch gilt: Jeder Computer kann jedes Programm ausführen – genügend Zeit vorausgesetzt.

Auch das ist revolutionär, weil man sich die altertümliche Praxis erspart, hochspezialisierte, ausschließlich für bestimmte Anwendungsgebiete (Versicherungsmathematik, Ballistik, Volkszählung) geeignete „Rechenmaschinen“ zu konstruieren.

Das revolutionäre Prinzip des Universalrechners hat das Schicksal der Menschheit für immer verändert. Dass wir für jede Anwendung (von medizinischen Implantaten über Autos und Handys bis hin zu Wahlautomaten) dieselben Computer benutzen, bedeutet nämlich auch, dass jede Verbesserung dieser Computer allen Anwendungen zugutekommt. Wenn Sie darüber staunen, wie weit sich die Computer im Laufe Ihres Lebens entwickelt haben, sollten Sie eines nicht vergessen: Egal, auf welchem Gebiet Sie tätig sind, Sie profitieren stets von den Fortschritten in der Computertechnik. Daher werden auch immer genug Energie und Ressourcen für eine Verbesserung der Computer zur Verfügung stehen.

Auch die moderne Verschlüsselungstechnik ist revolutionär. Schon seit Cäsars Zeiten versucht die Menschheit, Botschaften durch Chiffrierung geheim zu halten, doch erst der Universalrechner in Verbindung mit bahnbrechenden mathematischen Erkenntnissen führte zur Entwicklung zuverlässiger Verschlüsselungssysteme, mit denen selbst Computer mit durchschnittlicher Leistungsfähigkeit eine Datei so gut chiffrieren können, dass alle Rechner, die jemals gebaut wurden und zukünftig noch gebaut werden, an ihrer Decodierung scheitern.

Auf einem Universalrechner kann jedes Programm ausgeführt werden – auch das zur unlösbaren Chiffrierung. Universale Netzwerke transportieren Botschaften von einem Menschen zum anderen – auch die chiffrierten, für die man einen Decodierungsschlüssel braucht.

Das alles ist revolutionär.

Ist deshalb auch das Internet revolutionär?

Nein.

Es ist ein notwendiges, aber unzureichendes Mittel zur Durchsetzung einer Revolution.

Ein Nationalstaat besitzt eine gewisse Macht. Er verfügt über eine Polizei, eine Armee und ein großes Budget. Er kann Internetprovider und Technologiefirmen zur Kooperation zwingen. Er hat die Befugnis, Türen einzutreten und Rechner zu konfiszieren. Er kann heimlich in Privatwohnungen eindringen und dort Spionageprogramme auf den Computern installieren. Er kann – ausreichend Personal vorausgesetzt –seine Feinde durch umfassende Überwachungsmethoden rund um die Uhr beobachten und geduldig darauf warten, dass sie einen Fehler machen.

Selbst mit den besten Verschlüsselungsmethoden, den schnellsten Computern und allgemein zugänglichen Netzwerken ist das Leben in einem autokratischen, korrupten Staat kein Zuckerschlecken. Irgendwann werden Sie oder Ihre radikalen Freunde einen Fehler machen und von den Staatsorganen verhaftet, auf eine schwarze Liste gesetzt, erpresst oder öffentlich in Verruf gebracht werden. Dieselben Computer, Netzwerke und Verschlüsselungssysteme, mit denen Sie sich vor der Staatsmacht geschützt haben, setzt der Staat nun ein, um sich vor Ihnen zu schützen. So bewahrt er seine Geheimnisse, so koordiniert er in Lichtgeschwindigkeit seine Agenten, so beobachtet er Sie mit tausend Augen.

Um dem zu entkommen, muss man perfekt sein. Um Ihnen auf die Schliche zu kommen, reicht dem Staat dagegen ein winziger Augenblick, in dem Ihre Sicherheitsmaßnahmen nicht perfekt sind.

Egal, wie das Sicherheitssystem aussieht – der Angreifer ist immer im Vorteil. Wer eine Mauer baut, muss jeden Stein mit Vorsicht setzen. Wer sie niederreißen will, dem genügt eine einzige Schwachstelle. Wenn Angreifer und Verteidiger über dieselben Werkzeuge verfügen, werden die Angreifer früher oder später gewinnen.

Das Internet ist also alles andere als revolutionär.

Wenn Sie in einem korrupten Unrechtsstaat leben, in dem eine rücksichtslose, gierige Elite an der Macht ist, wird Sie ein Internetzugang nicht vor Unterdrückung schützen. Und selbst wenn Sie fliehen können und ins Exil gehen, können Sie zwar übers Internet mit Ihren Freunden und Verwandten kommunizieren – beschützen können Sie sie nicht.

Das Internet ist kein Ersatz für politische Veränderungen.

Und doch können auch Revolutionäre vom Internet profitieren.

Es gibt keine gleichwertige Alternative zu einem demokratisch legitimierten, an den Bedürfnissen seiner Bürger ausgerichteten Staat, dessen Politik auf gesundem Menschenverstand und fruchtbaren Diskussionen fußt, dessen Repräsentanten nicht über dem Gesetz stehen und in dem Rechtsstaatlichkeit herrscht. Das Internet – ein universales, auf universalen Endgeräten betriebenes Netzwerk, mit dem man verschlüsselte Botschaften versenden kann – ist ein Werkzeug, mit dem man sich noch im totalitärsten Regime einen gewissen Freiraum verschaffen kann. Ein Ort, an dem sich Reformer und Revolutionäre organisieren, mobilisieren und Widerstand leisten können. Ein Forum für heimlichen Dissens und ein Sprachrohr, um lautstark auf die finsteren Machenschaften der Mächtigen hinzuweisen.

Die Theorie des „Wir kehren der Politik den Rücken und versuchen, die staatliche Unterdrückung mithilfe des Internets zu umgehen“ jedoch ist und bleibt eine Sackgasse.

„Das Internet hilft uns dabei, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen, Korruption zu beenden, die Anständigen zu versammeln und Verbrechen aufzudecken“ – diese Theorie dagegen ist wichtiger denn je.

Das Internet ist keine revolutionäre Technologie, aber es macht Revolutionen einfacher als jemals zuvor. Deshalb sollten wir es verteidigen und dafür sorgen, dass es frei, gerecht und allen zugänglich bleibt. Ein korruptes, überwachtes, kontrolliertes Internet ist ein Unterdrückungsinstrument einiger mächtiger Wahnsinniger. Ein freies, gerechtes und offenes Internet dagegen ist: Widerstand.
 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Sein Roman „Walkaway“ ist im Shop erhältlich. Im Mai diesen Jahres erscheint bei Heyne seine Novelle „Wie man einen Toaster überlistet“.

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