29. Mai 2017 1 Likes

Bilder lesen

Über die zukünftigen Filme von Sir Charles Chaplin

Lesezeit: 4 min.

Seit nunmehr vielen Vorweihnachtszeiten überlegen meine Frau und ich, unsere Bibliothek zu modernisieren, ja zu dematerialisieren. Ein fesches Lesegerät soll ins Haus, ein eleganter E-Book-Reader, sattes Schwarz auf papierweißem Bildschirm, mal mit, mal ohne Hintergrundbeleuchtung.

Gesagt, doch noch immer nicht getan. Stattdessen haben wir neuerdings ein Lieblingsbuch, um das uns jeder Papst sämtlicher Buchreligionen beneiden dürfte, so voluminös und schwergewichtig kommt es daher. Über sechs Kilogramm bringt das Werk auf die Waage; es mit einer Hand halten: unmöglich; selbst der Hände zwei reichen kaum hin; für fragile Coffeetables empfehlen können wir es nicht.

Die gebundene Wucht heißt „The Charlie Chaplin Archives“, edited ist es by Paul Duncan, und Seiten hat es beinahe sechshundert. Der Umschlag wirkt wie mit Blattgold ausgelegt, ist es aber nicht.

Eine Hintergrundbeleuchtung fehlt. Aber das ist auch das einzige Manko.

Ich habe Chaplin früher viel, in letzter Zeit weniger gesehen. Chaplin, so meine Erfahrung, schaut man in seiner Kindheit, in seiner Jugend, in einer lebensgeschichtlichen Epoche der Lachlust, später vielleicht noch einmal mit kichernden Kindern. Und wenn überhaupt noch Chaplin, dann schaut man Chaplin, diesen genialsten aller Tänzer, diesen englischen Akrobaten, Sohn der Luft. Aber ihn lesen? Hmhm.

Dabei ist, was man so liest, aufschlussreich und unterhaltsam. Wer ist dieser Chaplin überhaupt? Ist er Engländer? Manches spricht dafür. In London mag er geboren sein, möglicherweise in Whitechapel, vielleicht auch in Walworth, man weiß es nicht; weder liegt eine Geburtsurkunde vor, noch existiert ein Eintrag im Taufregister; auch was standesamtliche Papiere angeht: Fehlanzeige.

Was für eine fantastische Figur! Senator Joseph McCarthy, seinerzeit ein volkstümlicher Kommunistenjäger in den USA, pries ihn als „Einen von Hollywoods Salonbolschewiken“. Fassbarer wurde er dadurch nicht.

Schauen, sagte ich, müsste man Chaplin, ihn in bewegten Bildern sehen. Aber ein Buch?

Chaplin ist Geschichte geworden. Geschichten gehören in Bücher. In Büchern kann man blättern, hin und her und her und hin, und wenn es rechte Blätter sind, groß und schwer, dann machen sie beim Gewendetwerden ein hübsches, bibliothekares Geräusch (wie es von den aktuellen Lesemaschinen noch nicht simuliert wird – kommt noch).

Geschichte hat man hinter sich. Man lehnt sich zurück. Und wahrlich, es ist ein großer Spaß, die Bilder aus den Filmen einmal stillstehen zu sehen, tiefenscharfe Szenen, jede für sich ein Roman: Charlie als gefallener Rollschuhfahrer, der Tramp im Goldrausch, der Mann in der Maschine, als schnitzelbrüllender Großer Diktator.

Übrigens kam mir eben in diesem Kapitel eine ganz neue Leselust: Hynkels hübsche Sekretärin – wie sehr ähnelt sie in ihrer fast schmucklosen Tracht der Tamara Jagellovsk! Ein Vorschein von Raumpatrouille Orion! Und dann der legendäre Auftritt von Professor Spittenkoff, der mit seinem aufblasbaren Ein-Mann-Zeppelin in des Führers Arbeitszimmer schwebt – Nazi-Geheimwaffe, ik hör dir trapsen!

Eine schöne Szene, leider nicht verfilmt.

Jedenfalls noch nicht verfilmt.

Es sind ja nicht nur einzelne Szenen, die ausgedacht, aber nicht gedreht worden sind. Es sind ganze Filme. Ich erinnere an des Meisters Werk Napoleon – ein Plan, der dem Great Dictator-Projekt zum Opfer gefallen ist.

Noch magischer, noch chaplinesker wäre aber wohl sein letztes Filmprojekt geworden: The Freak. Die Handlung, die der damals beinahe 80-jährige ersonnen hat:

In Chile wacht eines Nachts ein gewisser Professor Latham auf – etwas ist auf dem Dach seines Hauses gelandet. Ein Riesenvogel? Oder ein Engel? Es ist Sarapha, ein Mädchen; es hat Flügel. Saraphas Existenz wird bekannt; sie wird nach London entführt, in Quarantäne gesteckt; ihr Menschsein wird bestritten. Erst als eine Geburtsurkunde vorgelegt wird, kommt sie frei. Doch nach den Erfahrungen in London will sie nur noch eines: heimfliegen nach Chile. Sie kommt nicht an. Am Ende wird sie leblos aufgefunden; ihr Körper treibt im Atlantik.

Was für ein Film! Leider nur ein Film, wie er im Buche steht.

Ist das das letzte Wort?

In letzter Zeit äußern sich die Experten zuversichtlicher, was die Entwicklung einer künstlichen Intelligenz angeht. Warum auch nicht. Ein letzter, überzeugender Beweis für echte Intelligenz wäre doch künstlerische Fähigkeit. Vielleicht finden wir ja irgendwann einen Algorithmus für die besondere, chaplinsche Kunstfertigkeit, für seinen Blick auf die Welt und ihre wundersamen Details. Dann legen wir jenem in die Geheimnisse menschlicher Schöpferkraft eingeweihten Kunstandroiden das unfertige Drehbuch für The Freak vor, und mit viel Computer Generated Imagery entsteht vor und für unsere Augen Chaplins letztes Meisterwerk.

Oder noch besser: Es kommen neue E-Book-Reader auf den Markt, die auf Knopfdruck oder Fingerwisch aus Skizzen komplette Filmkunstwerke rechnen.

So ein Gerät kaufen meine Frau und ich uns dann auch, definitiv.
 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.