Arbeit und Schönheit
Einige Überlegungen zu William Morrisʼ utopischem Klassiker „Kunde von Nirgendwo“
Utopia hat eine lange Geschichte. Manche sagen, dass sie mit Sir Thomas Mores gleichnamigem Roman von 1516 ihren Anfang nimmt; andere, dass sie sogar bis zu Plato zurückreicht. „Utopia“ als der Drang, sich eine bessere Welt vorzustellen, ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Für mich stellt jedoch William Morrisʼ neoarkadischer utopischer Roman Kunde von Nirgendwo (auch: Neues aus Nirgendland) von 1890 den größten literarischen Wendepunkt in der Geschichte Utopias dar.
Morris war ein Multitalent: Dichter, Romanautor, Künstler, Designer und Sozialist. Zudem hegte er eine beinahe obsessive Bewunderung für die Vergangenheit, insbesondere für eine idealisierte, romantische Version des Mittelalters. Obwohl Kunde von Nirgendwo in der Zukunft spielt, ist die dargestellte Welt bewusst altmodisch gehalten. Der Erzähler des Romans, William Guest, fällt in ein Koma und wacht in einem schönen, harmonischen England auf. Besitz und Produktionsmittel sind in gemeinschaftlicher Hand und alles, von den Wohnhäusern und ihrer Einrichtung bis hin zu Kunstwerken und den Menschen selbst, von wunderbarer Schönheit. Privatbesitz, Städte, Exekutive und Judikative, Gefängnisse, Geld und soziale Ungerechtigkeit sucht man hier vergebens. Während Guest diese nachhaltige Agrargesellschaft durchstreift, begreift er, dass sie funktioniert, weil die Menschen Freude an ihrer Umgebung, ihren Mitmenschen und ihrer Arbeit haben.
Und tatsächlich erscheint mir die größte Errungenschaft von Kunde von Nirgendwo, dass „Nutzwert“ mit „Schönheit“ gleichgesetzt wird. Für alle Romantiker davor (ausgenommen vielleicht Blake) und die Romantiker danach (wie etwa Oscar Wilde) waren Nützlichkeit und ähnlich utilitäre Konzepte ein rotes Tuch. In einem Essay, der 2008 in der London Review of Books erschien, fasst Terry Eagleton die Bewegung, die wir „Romantik“ nennen, in groben Zügen zusammen:
„Für die Romantiker gehörten sowohl Gott als auch die Kunst in die seltene Kategorie von Objekten, die nur zum Selbstzweck existieren und denen nicht der vulgäre Hauch der Nützlichkeit anhaftet. Das dritte Element dieser Kategorie war der Mensch. Durch ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit und ihre glorreiche Nutzlosigkeit waren Kunstwerke Abbilder des Menschen – oder dessen, was er unter veränderten politischen Umständen sein könnte. In diesem Sinne stellte die Kunst eine ganz eigene Form der Politik dar, indem sie auf eine zukünftige Gesellschaft hinwies, in der die Menschen um ihrer selbst willen existieren: in ihrer Nutzlosigkeit ein Vorgeschmack auf Utopia.“
Wenn Eagleton von „Abbildern des Menschen oder dessen, was er unter veränderten politischen Umständen sein könnte“ spricht, meint er „Abbilder von Aristokraten“, da selbst noch Anfang des 20. Jahrhunderts auf Porträts mit überwältigender Mehrheit wohlhabende Menschen dargestellt wurden. Ich persönlich bin nicht überzeugt davon, dass das Ziel einer Revolution darin bestehen sollte, uns alle zu hochwohlgeborenen Herrschaften auf fürnehmen Landsitzen zu machen. Mein Hauptkritikpunkt an Eagleton ist jedoch, dass er das Konzept des Utilitarismus völlig falsch verstanden hat. Da der Utilitarismus ein rein menschliches Konzept darstellt, können wir mit Fug und Recht sagen, dass bis auf den Menschen nichts aus utilitären Gründen existiert. Das Cholerabakterium beispielsweise hat keinen Nutzwert, und das ist ihm auch egal; doch dass ich mich nützlich machen kann, ist das Höchste, wessen ich mich als Individuum rühmen kann. Das hat Morris sehr genau verstanden.
Indem er in seinem Roman die „Arbeit“ anhand von Kunst und Architektur durchdekliniert, verleiht er ihr eine einzigartige, erkenntnisfördernde Kraft. Natürlich ist in der realen Welt nur ein Bruchteil aller geleisteten Arbeit künstlerisch. Morris war sich dessen ebenfalls bewusst; darum geht es ihm nicht. Stattdessen versucht er – in diesem Roman und auch anderswo – die Kunst einer Neudefinition zu unterziehen, damit sie eine ganze Reihe von menschlichen Erfahrungen beinhaltet, die man üblicherweise nicht mit diesem Begriff in Verbindung bringt. In seinem Essay Wie ich Sozialist wurde (erschienen 1894 in der linksgerichteten Zeitschrift Justice) erklärt er diesen ideologischen Kampf. Die unübersehbaren Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten der viktorianischen Gesellschaft, „die gegenwärtigen sozialen Missstände und die Unterdrückung der Armen“ überzeugten ihn davon, dass es statt gutgemeinter, allmählicher Verbesserungen einer Veränderung bedurfte, die ebenso radikal wie systematisch vonstattengehen musste, wenn sie etwas bewirken sollte. Gleichzeitig gesteht er aufschlussreicherweise, dass ihm die Lektüre von Marx, als er endlich dazu kam, eine „quälende Verwirrung des Verstandes“ bereitete (er „genoss“ Marx‘ historische Analyse, wie er behauptet, die „reine Wirtschaftslehre“ dagegen war ihm zu hoch). Die Triebkräfte, die seinen politischen Standpunkt definieren, sind zum einen die Geschichte, zum anderen die Kunst:
„Um es kurz zu wiederholen, hat das Studium der Geschichte und die Liebe und Ausübung der Kunst mich zum Hass gegen die Zivilisation gezwungen, welche, wenn die Dinge so stehen geblieben wären, wie sie sind, die Geschichte in einen inkonsequenten Unsinn verwandelt haben würde und die Kunst zu einer Sammlung von vergangenen Seltenheiten gemacht hätten, die zum Leben der Gegenwart keine ernste Beziehung mehr gehabt haben würden … Doch erinnere man sich nur, wie die Zivilisation den Arbeiter auf eine so elende erbarmungswürdige Existenz herabgedrückt hat, dass er kaum verstehen gelernt hat, seine Lebenswünsche höher zu gestalten, als er sie jetzt zu erdulden hat. Die Pflicht der Kunst ist es dabei, ihm das wahre Ideal als ein volles vernunftgemäßes Leben darzustellen.“
Die Kunst soll die Kunst retten; Geschichte soll nicht länger „inkonsequenter Unsinn“, sondern konsequent und sinnvoll sein. Kunst ist für Morris immer Ausdruck gelebter Erfahrung: Die Häuser, in denen wir wohnen, die Landschaften, durch die wir uns bewegen, die Bücher, die wir lesen, und die Statuen, die wir in öffentlichen Museen aufstellen. Mit der Geschichte verhält es sich genauso. Morris‘ Werken ist ein Geschichtsverständnis zu eigen, das man anti-chronologisch oder nicht-annalistisch bezeichnen könnte. Sein Roman transportiert die Überzeugung, dass Geschichte keine wertfreie Aneinanderreihung von Ereignissen, sondern eine Erzählung darstellt, die mehr oder weniger schön geschrieben werden kann – Geschichte ist gelebte Kunst, die weniger nach statistischen, ökonomischen und auch sozialpolitischen, sondern vielmehr nach ästhetischen Maßstäben bewertet werden sollte.
Eine solche Sichtweise ist natürlich nicht unproblematisch. Antonio Gramsci beschrieb die Vermischung von politischen und ästhetischen Kriterien als einen der charakteristischen und gefährlichsten Wesenszüge des Faschismus. Wenn ein Haus als hässlich empfunden wird, kann man es abreißen und ein neues, schöneres bauen. Die Bewohner von Morris‘ zukünftigem England haben genau das in großem Maßstab getan. Wenn man allerdings bestimmte Menschen für hässlich hält, ist ihre Vernichtung und Verdrängung kein „Neuaufbau“, sondern Völkermord. Morris-Anhänger werden sich gegen diese unwürdige Interpretation seiner Thesen verwehren; und natürlich war Morris selbst ein strikter Gegner jener kollektivistischen und militaristischen Lebensentwürfe, wie sie sich der Faschismus erträumte – der Morris-Forscher Clive Wilmer weist darauf hin, dass seine Liebe zur gotischen Architektur Hand in Hand mit einer Verachtung für neoklassizistische Baustile ging (in Kunde von Nirgendwo herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass das weltberühmte British Museum eigentlich furchtbar hässlich ist). Wilmer schreibt, dass Morris den Neoklassizismus „mit einer Leidenschaft verachtete, wie sie in der modernen Architektur undenkbar scheint“, schreibt diese Abneigung jedoch Morris‘ Überzeugung zu, dass ein solcher Baustil nicht nur „kalt, unnütz und snobistisch“ sondern auch ideologisch vorbelastet sei: „Der Versuch, die Macht des römischen Imperiums nachzubilden, die Billigung einer kulturellen Hierarchie, der Wert, der Anstand und Etikette beigemessen wurde – das alles beinhaltete für Morris eine soziale Botschaft.“ Die implizite „Verherrlichung“ dieser Hierarchie durch die Architektur widerte ihn an. Dennoch weist Morris‘ Vermengung von politischer Praxis und Ästhetik eine gewisse ideologische Naivität auf. Als Nachkomme einer wohlhabenden Familie wuchs Morris umgeben von schönen Dingen auf; dennoch war er sich bewusst, in welch fundamentalem Ausmaß Elend und Missgunst (die hässlichen Töchter der Armut) die Lebensqualität untergraben. Allerdings ist dies eine nichtkommutative Aussage. Damit meine ich: Es ist eine Sache, Schönheit (etwa architektonische Schönheit) als ein Produkt des Wohlstands zu betrachten – der Buckingham Palace etwa ist schöner als ein Slum. Doch daraus folgt nicht – wie sehr Morris dem auch widersprechen mag –, dass Wohlstand ein Produkt der Kunst ist. Das Hauptproblem an Morris‘ Politik der Ästhetik ist nicht, dass sie das subjektive Schönheitsempfinden ignoriert (und das tut sie tatsächlich), sondern dass sie sich nicht eingestehen will, dass Schönheit kein Zahlungsmittel darstellt.
Andererseits beweist dies auch, wie tiefschürfend Morrisʼ Utopiekonzept ist. Indem er die Arbeit nicht als mühsame Last, sondern als eine erfüllende, verdienstvolle und schmückende Tätigkeit begriff, konnte er sie von der „Tausch“-Logik des Kapitalismus befreien. Arbeit ist produktiv; sie stellt Dinge her, und im Idealfall sind dies nur schöne Dinge. Der Tauschhandel dagegen ist lediglich ein glanzloser, beinahe steriler Vorgang, bei dem man einen Gegenstand für einen anderen erhält. Nach Morris ist die Arbeit keine horizontale, sondern eine vertikale Quantität – und die Maßeinheit der vertikalen Achse sollte die Schönheit sein.
Adam Roberts ist eine der vielversprechendsten Stimmen in der neueren britischen Science Fiction. Geboren 1965, studierte er Englische Literatur in Aberdeen und Cambridge und arbeitet derzeit als Dozent an der University of London. Alle Kolumnen von Adam Roberts finden Sie hier.
Kommentare
Da nutze ich doch gleich mal die Gelegenheit um die Heyne Redaktion zu fragen, ob "By light alone" von Roberts mal auf deutsch kommt?