Der Steinzeitmensch in mir
Unser Körper als archäologisches Grabungsfeld
Die menschliche Anatomie hat sich in den letzten siebentausend Jahren kaum verändert, sondern entspricht weitgehend noch jener der steppenbewohnenden Jäger und Sammler. Daher tragen wir einen Haufen „Rudimente“ aus grauer Vorzeit in uns, die entweder dem Überleben nicht hinderlich sind oder eine neue Funktion entwickelt haben. Ja, auch Sie da vor dem Bildschirm sind betroffen …
Zum Beispiel Ihre Weisheitszähne: Während Frühmenschen noch viel hartes Zeug zu kauen hatten (hölzerne Stängel, Rinde, rohes Fleisch, Knochen noch nicht ausgestorbener Tierarten), wurde die Mundpartie des modernen Menschen immer zierlicher, da gekochte Nahrung leichter verdaulich ist. Leider wurde aber die Anzahl der Zähne nicht weniger, was heutige Zahnfehlstellungen zur Folge hat. Als Teenager besaßen auch Sie nur achtundzwanzig Zähne, und das wäre auch bei weitem genug, doch unsere Steinzeitnatur sorgt dafür, dass im Erwachsenenalter vier weitere Zähne durchbrechen, die für absolut nichts gut sind (außer dafür, das Einkommen von Zahnärzten aufzubessern).
Bleiben wir in der Kopfregion und betrachten Ihre Ohren. Obwohl sie relativ fest verankert wirken, haben sie noch drei Muskelansätze zum Bewegen. Denn einst mussten sie sich, wie bei anderen Säugetieren, in jene Richtungen drehen können, aus der Gefahr drohte. Im Lauf der Evolution sind sie zwar verkümmert, reagieren aber immer noch auf Geräusche und versuchen das Ohr in die entsprechende Richtung zu ziehen. Braucht heute niemand mehr, sofern er nicht beim Zirkus oder als Spion arbeitet. Mein Großvater konnte noch mit den Ohren wackeln, aber ich fürchte, er gehörte zu den Letzten seiner Art.
Ein anderes altes Überbleibsel ist die Nickhaut in Ihrem Auge: Es handelt sich hier um den Bindegewebsrest im äußersten Augenwinkel (an der Nase gelegen). Während er Reptilien, Vögeln und anderen wasserbewohnenden Tieren als „drittes Augenlid“ dient (das als Schutzschicht über die Hornhaut gezogen wird), hat er bei uns seine Bedeutung verloren.
Ein kleines Experiment: Legen Sie Ihren Daumen an den kleinen Finger und beugen Sie die Hand in Richtung des Körpers. Falls sich nun am Ansatz Ihres Handgelenks eine Sehne abzeichnet, gehören Sie zu den fünfundachtzig Prozent der Menschheit, das dieses Stückchen Evolution noch besitzt. Bei den anderen hat sich dieser lange Hohlhandmuskel bereits aus einem oder beiden Armen zurückgezogen. Ursprünglich half er dabei, die Hand zu beugen, stabilisierte das Handgelenk und unterstützte das Drehen des Unterarms. Sie ahnen schon, warum: Es erleichterte unseren Vorfahren das Klettern. Im modernen Großstadtdschungel zählt das jedoch nicht mehr zu den relevant skills.
Im Lauf der Zeit veränderten sich auch unsere Oberschenkel: Vor siebentausend Jahren (also nach Beginn der Sesshaftwerdung in Europa) begann ihr Umfang deutlich abzunehmen; der Rückgang an täglicher Belastung (Laufen, Wandern, Klettern, Jagen) führte zum Abbau von Knochenmasse. Allerdings scheint unser Körper noch die Anlage zu schweren Knochen zu besitzen: Professionelle Läufer, die schon früh im Leben zu trainieren begonnen haben, haben oft eine Knochenstruktur wie in der Altsteinzeit. Wenn allerdings Ihr Onkel, der noch nie weiter als fünf Meter ohne Auto gelaufen ist, sein Übergewicht auf „schwere Knochen“ schiebt, ist Skepsis durchaus angebracht.
Wozu brauchen Sie eigentlich noch Haare? Ihren Urururur…großeltern dienten sie als schützendes Fell; heute hingegen stören sie eigentlich nur, vor allem wenn sie auf den Beinen oder am Rücken wachsen. Lediglich die Schambehaarung hat offenbar noch einen Schutzfaktor gegen Krankheitskeime, und ein wallendes Haupthaar vermittelt Gesundheit und sexuelle Attraktivität. Übrigens ist auch die Gänsehaut ein Überbleibsel des einstigen Fells: Richten sich die Haare auf, wird das isolierende Luftpolster zwischen warmer Haut und kalter Umgebung vergrößert, und man friert weniger. Selbstverständlich kann man mittlerweile auch einfach Hose und Hemd überziehen, was bei Geschäftsgesprächen in kühlen Büros durchaus gern gesehen wird.
Sie werden sich eventuell nicht mehr erinnern, aber als Sie noch ein Baby waren, packte Ihre Hand automatisch zu, sobald man etwas in Ihre Handfläche legte. Nicht sehr kinderfreundliche Tests zeigen, dass Babys sich mit diesem Klammerreflex bis zu dreißig Sekunden lang an einer Querstange festhalten können. Das funktioniert bis zum neunten Lebensmonat ganz gut (danach lösen nur noch das neueste iPhone, ein Bierglas oder eine Hermès-Handtasche diesen Steinzeitinstinkt aus). Interessant ist, dass auch unsere Füße bis zum ersten Lebensjahr die Fähigkeit haben, sich bei Berührung sofort zusammenzurollen. Während heutige Babys damit nur angeben, diente es den Frühmenschenkindern dazu, sich gleich nach der Geburt ans Fell ihrer Mutter zu klammern.
Ja, es stimmt, auch Sie hatten im ersten Entwicklungsstadium als Embryo noch einen affenartigen Schwanz, der immerhin ein Sechstel Ihrer Körperlänge maß. Glücklicherweise entwickelte er sich in der achten Schwangerschaftswoche zurück und ersparte Ihnen damit Hänseleien in der Grundschule. Übriggeblieben sind davon nur drei bis vier miteinander verwachsene Wirbel, die wir als „Steißbein“ kennen (auch wenn wir es an uns selbst nicht so ohne weiteres betrachten können). Zwar hätte die Evolution den Schwanzrest entsorgen können – doch er spielt eine wichtige Rolle bei unserer embryonalen Entwicklung: Mehrere Muskel und Bänder des Beckens nutzen ihn als Anhaltspunkt, zudem stabilisiert er den Beckenboden, die Hüften und, nicht ganz unwichtig, den Schließmuskel des Afters.
Bleiben wir noch kurz bei delikaten Steinzeitmuskeln: Einen haben Sie höchstwahrscheinlich mit Beuteltieren gemein. Und zwar den Pyramidenmuskel, der sich in der Sehnenscheide des geraden Bauchmuskels verbirgt und unterhalb des Nabels endet. Bei etwa zwanzig Prozent der Menschen fehlt er mittlerweile völlig, da er für die Aufzucht der Nachkommen keine Bedeutung mehr hat (was ich irgendwie schade finde, wenn ich mir Kinderspielplätze voller Beutelmütter und -väter vorstelle).
Und last, but not least kommen wir zu dem Körperteil, an den Sie vermutlich schon die ganze Zeit über gedacht haben: dem berüchtigten Wurmfortsatz unseres Blinddarms. Doch Überraschung: Während er lange als nutzloses und sogar gefährliches Steinzeitorgan galt, mehren sich die Hinweise, dass er auch heute noch einen Sinn hat. In der elften Entwicklungswoche des menschlichen Embryos bilden sich im Wurmfortsatz nämlich Drüsenzellen und erzeugen Hormone, die bei der Kontrolle des Wachstumsprozesses mitwirken. Nach der Geburt entwickeln sich im Appendix gesundheitsfördernde Lymphzellen und Antikörper. Zudem stellt er einen notwendigen Rückzugsort für die nützlichen Darmbakterien dar: Nach Infektionen kann sich dadurch die Darmflora relativ rasch wieder erholen. Aus diesen Gründen zögern Ärzte mittlerweile, ihn zu entfernen, wenn es nicht absolut nötig ist.
Alles in allem ähneln wir also gewissermaßen einem modernen Elektroauto, dessen Armaturen und Motorteile aber teilweise noch von Henry Ford persönlich zusammengeschraubt wurden. Wir fahren recht gut damit. Die Frage ist, welche der heutigen Körperteile wir in siebentausend Jahren noch enthalten werden: Könnten sich jene Gehirnareale vergrößern, die für Kommunikation und Softwarebedienung zuständig sind? Werden unsere Finger- und Fußnägel überleben? Steigt die Anzahl unserer Schweißdrüsen in einer Welt mit global erhöhten Temperaturen? Verlieren wir Männer endlich unsere Brustwarzen (immerhin säugen wir ja keine Kinder), oder entwickeln wir uns zu geschlechtshybriden Wesen? Brauchen wir noch Leber und Galle, wenn wir ausschließlich schadstofffreie nutrition drinks zu uns nehmen? Wohin mit den primären Geschlechtsorganen in einer Welt genetisch optimierter, künstlicher Befruchtung? Und schließlich: Wozu noch Finger, wenn kein Schwein mehr Texte wie diesen hier tippt und ein Daumen zum Ein- und Ausschalten des Gedankeninterfaces reicht? Betrachten Sie also nochmal Ihren Körper: Was davon wird wohl bei Ihren Nachfahren noch vorhanden sein?
Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.
Kommentare
ZITAT: >> Wozu brauchen Sie eigentlich noch Haare? ... ein wallendes Haupthaar vermittelt Gesundheit und sexuelle Attraktivität. <<
Kopfhaare dienen m. E. auch als Sonnenschutz.
ZITAT: >> Die Frage ist, welche der heutigen Körperteile wir in siebentausend Jahren noch enthalten werden: Könnten sich jene Gehirnareale vergrößern, die für Kommunikation und Softwarebedienung zuständig sind? <<
Siehe dazu die Science-Fiction-Komödie Idiocracy aus dem Jahr 2006. Der Film zeigt eine Dystopie der Welt des Jahres 2505, in der eine geistig degenerierte Gesellschaft vor ihrem Ende steht. Der Film äußert zu Beginn die These, dass in der modernen Gesellschaft Intelligenz und Bildung keine Selektionsvorteile sein müssen. (Aus Wikipedia)
ZITAT: >> Wohin mit den primären Geschlechtsorganen in einer Welt genetisch optimierter, künstlicher Befruchtung? <<
Die künstliche Befruchtung bleibt eventuell ein seltenes Phänomen in den derzeitigen Industriestaaten - der überwiegende Teil der Erdbevölkerung hat mit der natürlichen Befruchtung keine Probleme.
ZITAT: >> Betrachten Sie also nochmal Ihren Körper: Was davon wird wohl bei Ihren Nachfahren noch vorhanden sein? <<
Künstliche Eingriffe ins Erbgut könnten neue Features am Menschen hervorbringen. Andererseits: Zivilisation enden vielleicht auch mal. In Europa ist man technikmüde geworden, es wird schon länger mehr über Religionen geredet als über Wissenschaft und Aufklärung.