9. Mai 2016 2 Likes

Was kommt nach der Demokratie?

Wie (un)politisch wir am Ende dieses Jahrhunderts sein werden

Lesezeit: 5 min.

Ist die demokratische Staatsform ein Zukunftsmodell oder bereits auf dem Rückzug? Sehr aufschlussreich ist ein Blick auf ihre Entwicklung während der letzten zwei Jahrhunderte – also seit der ersten modernen demokratischen Verfassung 1787 in den USA (übrigens mitinspiriert vom „Bund der Irokesen“, einer gemeinsamen Räteverfassung von fünf Indianerstämmen). Anfänglich ein Minderheitenprogramm, setzte sich die Demokratie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als beliebteste Staatsform durch. Das zeigen sowohl die von Politikwissenschaftlern meistgenutzte Datenreihe Polity wie auch das alternative Bewertungsschema von Freedom House.

Die aktuellen Zahlen sind besonders interessant: Der von The Economist erstellte Demokratieindex kam für das Jahr 2014 auf 76 demokratische Regimes unter 167 bewerteten Staaten, und Freedom House nannte für 2015 eine Zahl von 89 „freien Ländern“ unter 195 untersuchten. Demnach sind also Länder mit demokratischer Staatsform und weitgehend freier Bevölkerung in der Überzahl.

Allerdings gibt es Gründe zur Besorgnis. Wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, werden die Demokratien nämlich zurzeit nicht mehr, sondern weniger. Und auch der alle zwei Jahre erstellte Bertelsmann-Transformationsindex (BTI) kommt zu dem Ergebnis, dass autoritäre Staatssysteme eine Renaissance erleben: Nicht nur entstehen neue Diktaturen in Konfliktgebieten und Entwicklungsländern (Zentral- und Nordafrika, Arabien, Thailand), sondern auch in bislang gefestigten Staaten (Ungarn, Polen, Türkei). Unter 129 untersuchten Ländern des Jahres 2016 befinden sich demnach 74 – wenn auch fehlerhafte – Demokratien und 55 Autokratien, darunter 40 „harte“ Diktaturen (also um sieben mehr als noch vor zwei Jahren).

Unbestritten ist, dass demokratische Verfassungen keine Naturgesetze sind, sondern sich mit der Zeit verändern oder durch andere Staatsformen ersetzt werden können – manchmal nach einem kurzen Zwischenspiel als „Anokratie“ oder „Hybride Demokratie“. Zudem dürften sie im Vergleich zu den Jahrhunderttausenden der Menschheitsgeschichte, die wir in Stammesgemeinschaften, Fürsten- oder Königtümern zubrachten, nur eine vorübergehende Erscheinung darstellen. Was könnte ihnen also nachfolgen, in hundert oder zweihundert Jahren?

Obwohl viele verschiedene Formen politischer Ordnung denkbar wären, treffen wir in der Science-Fiction meist nur auf drei Alternativen: a) die Diktatur in Verbindung mit einem Polizeistaat (wie beispielsweise in „Die Tribute von Panem“); b) die Gerontokratie, also Herrschaft der Alten, meist personifiziert als Ältestenrat (wie etwa in der „Matrix“-Trilogie); und schließlich c) die Plutokratie (Herrschaft der Reichen), in der unsere Nachfahren noch stärker als heute von Wirtschaftskonzernen und Geldadel gelenkt werden (beispielsweise in dem unterschätzten Film „Elysium“). Um nun zu erkennen, wohin sich die weltweiten Demokratien entwickeln könnten, gilt es, die sie bestimmenden globalen und regionalen Faktoren zu beachten. Denn nie zuvor kamen sie in derartiger Form zusammen.

Erstens bremst das weltweite Wirtschaftswachstum schon seit mehreren Jahren ab: Es wird weniger „neues Geld“ in die Gesellschaften kommen, und durch die gleichzeitig zunehmende Ungerechtigkeit in der Verteilung zwischen Arm und Reich – Korruption und Politikverdrossenheit inklusive – entsteht Potenzial zur (friedlichen oder gewaltsamen) Veränderung des staatlichen Ist-Zustands.

Zweitens sind unsere natürlichen Ressourcen nicht mehr so leicht verfügbar wie noch im 20. Jahrhundert. Es wird schwieriger, an frische Rohstoffe, Ackerflächen oder auch Trinkwasser zu gelangen und diese an alle zu verteilen.

Drittens wird diese Tendenz noch durch eine zunehmende globale Erwärmung verstärkt, die mit Meeresspiegelanstieg und einem Rückgang an Küsten- und Anbaufläche verbunden ist.

Diese drei Faktoren werden, da sie unsere wesentlichen Lebensgrundlagen darstellen, unsere politischen Entscheidungen massiv beeinflussen. Und je knapper die Ressourcen werden, desto weniger demokratisch wird deren Verteilung sein. Schon heute ist in den Demokratien ein Verschwinden der klassischen Parteipolitik zu beobachten: Nicht nur, weil zahlreiche neue Kleinparteien entstehen und wieder untergehen, sondern auch weil sich die Positionen der alten Großparteien zunehmend angleichen, während sich ihre Anhänger – siehe USA, aber auch Europa – in inszenierten Streitigkeiten präsentieren, um den Bürgern Entscheidungsfreiheit zu suggerieren. Auch daher rührt unsere Politikverdrossenheit und öffnet Spielräume für Neues.

Was ich nicht als Nachfolger für etablierte Demokratien (sondern höchstens für Anokratien) sehe, ist die angebliche „Wiederkehr der Religionen“. Denn sie waren nie wirklich weg – auch im säkularen Staat nicht –, zudem wird niemand ein demokratisches System zugunsten einer irrationalen Theokratie aufgeben. Religion kann nur noch als „Trittbrettfahrer“ eines militärisch-gewaltsamen Putsches aufsteigen, nicht jedoch aus sich heraus.

Der kaum einschätzbare neue Faktor jedoch, der hinzukommt, ist die zunehmende Technologisierung und transnationale Vernetzung unserer Zivilisation. Meinungen und Mehrheiten zu beliebigen Themen werden nicht mehr primär von politischen Führern oder heimischen Medien übernommen, sondern aus Internet und sozialen Netzwerken. Man wählt nicht mehr ein Leben lang dieselbe Partei, sondern entscheidet sich kurzfristig, nach aktuellen Themen und Ängsten, sowie nach der Attraktivität und Glaubwürdigkeit einzelner Kandidaten. Wer gar nicht mehr wählen will, zieht sich nicht etwa in die Stimmlosigkeit zurück, sondern unterstützt kurzfristig zusammengetrommelte Aktionen entweder aktiv (Demonstrationen, Bürgerinitiativen) oder passiv (Teilnahme an Internet-Petitionen, Geldspenden an Proponenten). Kaum jemandem ist klar, dass wir damit bereits die Grundpfeiler der klassischen Demokratie (Parteiensystem, festgesetzte Wahlordnungen, Delegation des Volkswillens an Parlamente und Kammern) zum Einsturz bringen.

Aus den Trümmern könnte sich etwas Neues erheben: die Neokratie als postdemokratische Variante des politischen Systems. Ob das in die Hose geht oder zu etwas Sinnvollem führt, wird davon abhängen, wer schneller ist. Neokratie bedeutet: Es gibt nicht mehr ein paar Parteien, sondern potenziell so viele wie Bürger (von der Ich-AG zur Ich-Partei). Wahlen beziehen sich nicht mehr auf nationales Territorium, sondern auf überregionale Themen (da weder Klimawandel noch Genetik oder Wirtschaftskrisen vor Grenzen Halt machen). Nicht mehr Politiker, sondern Wissenschaftler und (Pseudo-) Experten unterstützen den Meinungsbildungsprozess mit Hilfe der sozialen Netzwerke und Medien.

Neokratie heißt aber auch: Parlamente verschwinden und Bürokratien breiten sich aus (um die immer komplexeren Vereinbarungen in postnationalen „Interessensregionen“ zu koordinieren und zu überprüfen). Die Exekutive zur Ausführung und zum Schutz des Willens der Wählermehrheit wird allmählich verändert: Polizei, Sicherheitsfirmen und Internet-Provider vermischen sich, Nachrichtendienste und Transparenzbefürworter kämpfen in Echtzeit um die Vertuschung oder Offenlegung von Aktivitäten. Reiche kaufen sich Bürgerstimmen, um bei Online-Abstimmungen ihre Pläne durchzusetzen; auf der anderen Seite finanzieren sich Arme ihr Essen, indem sie für ein paar Cents ihre Stimme via Smartphone verkaufen – mehrmals am Tag. Rechenzentren werden zu den bestbewachten Orten der Welt. Bargeld in der heutigen Form existiert nicht mehr, abgerechnet wird in Online-Transaktionen (selten über Banken, meist über private Bezahlservices und virtuellen Tauschhandel). Den Medien – egal ob privat und unabhängig oder von Interessensgruppen gelenkt – kommt eine noch größere Rolle als heute zu: Wer die länderübergreifende Meinung am schnellsten und nachhaltigsten verändert, gibt die wirtschaftliche und gesellschaftliche Richtung vor. Trotzdem entsteht gerade aufgrund des Wegfalls parteipolitischer Vorgaben Pluralität: in der Kultur, in der Arbeitswelt, in der Ausbildung, im Lebensstil, in der sexuellen Ausrichtung, im Glauben, kurz: im gesamten täglichen Diskurs.

Von Jägergruppen zu Dorfgemeinschaften, über Feudalwesen zu demokratischen Nationen, Staatenbünden und supranationalen Vereinigungen – die Geschichte des „politischen Tieres“ Mensch ist eine der sich verändernden Organisationsformen. Heute erleben wir deren nächste technologische Transformation mit. Wohin das bis zum Ende des Jahrhunderts führt, können wir durch Wachsamkeit beeinflussen.

Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.