Anthropozän-Blues
Die Natur – pfeifen wir doch einfach drauf
Ich vermute mal, dass Ihnen das Riedberger Horn im Allgäu nichts sagt. Ich vermute außerdem, dass Sie sich jetzt gerade fragen, was ich denn mit dem Riedberger Horn will – in Zeiten, in denen die Welt doch wahrlich andere Probleme hat, etwa den immer wieder neu angefachten Krieg in Syrien oder die US-Präsidentschaftsbewerbung eines therapiebedürftigen Egomanen.
Lassen Sie mich also kurz erklären. Das Riedberger Horn ist ein etwa 1800 Meter hoher Berg, der in der sogenannten Zone C des bayerischen Alpenplans liegt. Zone C heißt, dass die Natur in diesem Gebiet dem höchsten Schutz unterliegt, dass dort beispielsweise größere Baumaßnahmen und Verkehrserschließungen untersagt sind. Diesem Schutzstatus, der vom bayerischen und deutschen Naturschutzgesetz sowie von der internationalen Alpenkonvention noch untermauert wird, zum Trotz haben die Bürgerinnen und Bürger der nahegelegenen Gemeinden Obermaiselstein und Balderschwang in einem Bürgerentscheid mehrheitlich beschlossen, am Riedberger Horn eine Skischaukel zu bauen – und die bayerische Staatsregierung hat zugesagt, die nötigen planungsrechtlichen Grundlagen für das Projekt zu schaffen. Der regierungsamtliche Kommentar war sinngemäß: „Mei, davon gehen doch nicht gleich die ganzen Alpen kaputt.“
Das stimmt. Die ganzen Alpen gehen nicht gleich kaputt, wenn am Riedberger Horn eine Skischaukel gebaut wird. Eben nur die eigentlich unter Schutz gestellte Natur am Riedberger Horn, und wen interessiert die schon?
Nun, ich denke, sie sollte uns interessieren, denn diese kleine lokale Entscheidung, zu der kaum mehr als tausend Wahlberechtigte aufgerufen waren, fügt sich in eine größere, ja globale Umdeutung unseres Naturverständnisses, in deren theoretischem Zentrum der Begriff „Anthropozän“ steht. Anthropozän ist der Name eines neuen Zeitalters: jene Epoche, die das Holozän vor kurzem abgelöst hat oder gerade ablöst (man debattiert noch darüber, wann diese neue Zeit eigentlich ganz konkret begonnen hat) und die sich durch den übermächtigen Einfluss des Menschen auf seine Umwelt auszeichnet. Das Anthropozän ist somit das erste Erdzeitalter, das es ohne uns nie gegeben hätte. Zwar hat die zuständige stratigraphische Kommission noch nicht die offizielle Ausrufung des Anthropozäns beschlossen, aber man liest praktisch keine Artikel und keine Bücher, hört keine Vorträge, besucht keine Ausstellungen zum Thema Ökologie mehr, in denen der Name nicht als gegeben vorausgesetzt wird.
Ich habe einmal an anderer Stelle herauszuarbeiten versucht, dass das Anthropozän – die Idee des Anthropozäns – eigentlich pure Science-Fiction ist und dass sich in der anthropozänischen Echokammer nicht nur Francis Bacon, Buckminster Fuller und Paul J. Crutzen tummeln, sondern auch H. G. Wells, Isaac Asimov und Stephen Baxter. Je mehr ich allerdings darüber nachdenke und je mehr ich die zahlreichen Experten über das Thema reden höre, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass das Anthropozän verdammt schlechte Science-Fiction ist. Denn hinter dem eigentlich löblichen Anspruch des Konzepts, nämlich die Erkenntnis, dass die Menschheitsgeschichte nur Teil einer viel größeren planetaren Geschichte ist, mit einem Schutz- und Bewahrungsauftrag an die Menschheit zu verbinden – „Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“ war das Motto der unlängst zu Ende gegangenen Anthropozän-Ausstellung in München –, findet sich eine neuartige und höchst bedenkliche Öko-Dialektik. So bedeutet „schützen“ auf Anthropozänisch eben nicht „bewahren“, sondern „managen“; es bedeutet: Natürlich brauchen wir die Natur, um zu überleben, aber wir brauchen sie nicht unbedingt in ihrer jetzigen Form.
Die damit verbundene Hoffnung ist offenbar, dass, wenn Menschen etwas managen, sie die Sache doch irgendwie ernst nehmen und versuchen, ordentlich zu machen, aber worauf sich diese Hoffnung angesichts von Jahrhunderten zerstörerischer Expansion gründet, ist mir schleierhaft. Ganz im Gegenteil scheint mir in der Anthropozän-Idee immer mehr der banale Anthropozentrismus wirksam zu sein, der in der Botschaft wurzelt, dass es letztlich nur um den Menschen geht, dass der Rest der Welt lediglich die Kulisse für das von uns dargebotene Drama ist. Diese Botschaft ist natürlich religiös grundiert, sie wurde aber von weiten Teilen der Aufklärung dankbar aufgenommen und in die Moderne weitertransportiert. Und so geistert sie jetzt nicht nur als trivial-millenaristisches Gedankengut durch die Welt (legendär etwa Sarah Palins Satz: „Umweltschutz ist völlig unnötig, in zwanzig Jahren kommt Jesus wieder“), sondern blitzt auch immer wieder in der Diskussion zwischen Anthropozänikern und traditionellen Naturschützern auf, in der es von Seiten der Anthropozäniker heißt: „Findet euch endlich damit ab, dass ihr auf einem gebrauchten Planeten lebt. Der Mensch ist jetzt eben überall.“
Naja, zumindest ist er, also der Mensch, inzwischen auch am Riedberger Horn. Und baut eine Skischaukel. Und abgesehen von der Tatsache, dass jede ernsthafte wissenschaftliche Studie darauf hinweist, dass man in den Alpen bedingt durch den Klimawandel (der Mensch hat seine Spuren nämlich längst auch in der Atmosphäre hinterlassen) immer weniger wird Ski fahren können, ist die Entscheidung vor allem auch deshalb grotesk, weil diese räumliche Ausweitung menschlichen Wirkens in einer Abstimmung beschlossen wurde, die das ökonomische Wohlergehen einer Handvoll Leute in Obermaiselstein und Balderschwang betraf – die Auswirkung dieser Entscheidung, der unwiederbringliche Verlust eines Teils der Biosphäre, aber betrifft uns alle. „Der Mensch“ oder „die Menschheit“ sind nämlich gar keine politischen Entitäten; was politisch wirksam ist, sind Interessen und Machtkonstellationen, die im Zweifel kein Problem damit haben, sich über nationales und internationales Recht frivol hinwegzusetzen. Und das geschieht jeden Tag. Jeden Tag werden solche Entscheidungen irgendwo auf der Erde getroffen; jeden Tag geht ein Teil der Biosphäre unwiederbringlich verloren; jeden Tag strebt das Anthropozän weiter seiner Vollendung zu: dem Zeitpunkt, an dem wir uns auf dem Planeten endgültig selbst genug sind.
Was dann sein wird, kann niemand genau vorhersagen. Womöglich merken wir, dass die theoretischen Konzepte, nach denen wir die Erde modelliert haben, den Praxistest in keiner Weise bestehen. Womöglich werden wir uns selbst so überdrüssig, dass wir einige Gebiete des Planeten – just for fun – wieder den Tieren und Pflanzen zurückgeben. Womöglich spielen wir ein bisschen mit dem Mond oder dem Mars herum. Womöglich aber wird es so sein wie in R. A. Laffertys Story „Land of the Great Horses“ (eine übrigens gute, nein hervorragende Science-Fiction, deren Pointe ich hier natürlich nicht verrate), in der die einstigen Bewohner eines Landes Jahrhunderte später rastlos um die Welt ziehen und sich immer wieder fragen, warum sie eigentlich so rastlos sind. Was war das noch, was sie verloren haben? Ach ja, das vielleicht Wertvollste, was wir überhaupt verlieren können. Etwas wahrhaft Magisches.
Ein Zuhause.
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