17. Februar 2020 6 Likes 1

Das Meer im Februar

Was wir verloren haben, was wir verlieren werden

Lesezeit: 5 min.

Auch Kolumnen werden älter. Das hier ist meine fünfzigste (hätte ich die Dateien nicht durchnummeriert, wäre es mir wohl gar nicht aufgefallen), und zu diesem Anlass, liebe Leserin, lieber Leser, wünsche ich mir etwas von Ihnen. Das ist ungewöhnlich, aber warum nicht?

Ich komme gleich zu meinem Wunsch. Zunächst die Kolumne. Ich hatte, da sich die letzten Wochen terminlich etwas kompliziert gestaltet hatten, das Schreiben des Textes eine Weile vor mir hergeschoben, mir aber fest vorgenommen, ein Wochenende in der ersten Februarhälfte dafür zu nutzen, an dem ich einen kurzen Ausflug an die Nordsee machte. Auch ein Thema hatte ich mir bereits zurechtgelegt. In der Süddeutschen Zeitung war ich in der Rubrik „Leute“ über einen Eintrag gestolpert, in dem es hieß, der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen habe „aufgegeben“. Der Kampf gegen den Klimawandel, so Franzen, sei verloren. Alles, was wir jetzt noch tun können, sei, darüber nachzudenken, „wie wir uns auf die Erschütterungen vorbereiten, die kommen werden“.

Was für ein herrliches Fundstück, hatte ich mir gedacht. Die apokalyptische Zukunftssicht eines prominenten Gegenwartsautors in einer Klatsch-und-Tratsch-Rubrik neben belanglosen Zitaten von Modemacher Wolfgang Joop, Schauspielerin Paula Beer und Rapper Sido – für meine Kolumne eigentlich ein Elfmeter, den ich nur noch verwandeln müsste. Doch als ich, am Meer angekommen, im Hotel zum Schreiben ansetzte, hatte ich plötzlich das Gefühl, durch Morast zu waten. Die Sätze blieben stecken. Ja, es war, als würde sich alles in mir gegen den Text sträuben, den ich da konzipiert hatte. Und so legte ich den Stift zur Seite und blickte für eine Weile aufs Meer.

Haben Sie schon einmal das nördliche Meer im Februar gesehen? Ich meine: wirklich gesehen? Es liegt nicht einfach nur so da wie in einem Reisekatalog, es ist nicht nur ein netter Hintergrund für Urlaubsfotos. Es ist auf geheimnisvolle Weise präsent. Es tost und schäumt und heult – und ist gleichzeitig ganz still. Im klaren, fast monochromen Licht des Winters wirken die Wellen wie kristallisiert und, wenn man genauer hinsieht, die winzigen Kräuselungen zwischen den Wellen wie Frakturen in einem Glas. Das Meer im Februar ist eine Erinnerung daran, dass wir auf einem unerträglich schönen Planeten leben.

Während ich auf dieses Meer blickte, musste ich an Claude Monet denken, der einmal sagte, dass er nicht die Dinge an sich malen will, sondern die Luft, die die Dinge berührt. Er meinte damit mehr als nur den flüchtigen Augenblick, dem der Impressionismus huldigte. Er meinte damit die Ausdehnung des ursprünglichen Sujets ins Nicht-Erfassbare, Nicht-Darstellbare, Nicht-Quantifizierbare.

Einst war die Welt voller Dinge, die nicht erfassbar, nicht darstellbar, nicht quantifizierbar waren. Es war eine archaische Welt der Legenden und Geschichten, die so wahr und so erfunden waren wie die Leben jener, die sie erzählten. Eine Welt, in der Menschen und andere Lebewesen auf magische Weise verbunden waren. Eine Welt, in denen es in den Meeren Geschöpfe gab, die den Menschen Lieder sangen.

Diese Welt ist verloren.

Was Menschen rätselhaft erscheint, was sie nicht beherrschen, wovor sie Angst haben, das domestizieren oder zerstören sie. So verblassen die Legenden und Geschichten, die alten Wörter fallen aus der Sprache heraus, und in den Meeren erklingen keine Lieder mehr, denn sie sind leer gefischt und zugemüllt. Wir studieren, visualisieren und simulieren unseren Planeten – und gleichzeitig verschwindet er unter unseren Händen. Tag für Tag wächst unser Wissen über die Welt – und gleichzeitig wissen wir nicht mehr, was wir einmal gewusst haben. Wir können Dutzende Interneteinträge über Wölfe lesen, aber wir wissen nicht mehr, dass es die unsichtbare Anwesenheit von Wölfen – oder Eulen oder Luchsen oder Seehunden – ist, die der Welt Tiefe verleiht, die sie reicher macht, ja, die sie überhaupt erst zu einer Welt macht.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich beklage hier nicht den Verlust von „Wildnis“, denn auch die Wildnis ist eine menschliche Erfindung. Sondern ich beklage den Verlust eines Resonanzraums, in dem mehr entsteht als nur das Echo unserer Stimmen. Ich beklage das Verschwinden eines Planeten, der sich so weit ausgedehnt hatte, dass wir mit unseren Gedanken ins Unendliche reisen konnten. Und bevor Sie meinen, ich würde uns alle ins Mittelalter zurückwünschen – oder wie es früher in Wahlkämpfen hieß: zurück auf die Bäume –, dann denken Sie nur einmal daran, was Sie im Lauf Ihres Lebens schon alles verloren haben. Und was Ihre Kinder, was Ihre Enkel alles verlieren werden.

In diesem Winter des Jahres 2020 wurden in Europa Temperaturen bis zu achtzehn Grad plus gemessen, und ein Fünfjähriger fragte mich vor Kurzem, was diese Schneemänner auf den Weihnachtskarten zu suchen hätten. In Australien, wo gerade Hochsommer ist, sind bei von unserem way of life entzündeten Waldbränden über eine Milliarde Tiere ums Leben gekommen. Über eine Milliarde. Das ist das Anthropozän, das ist die „Zeit des Menschen“, und ich empfinde nichts als Scham. Ich schäme mich für das, was wir da tun. Ich schäme mich für eine Kultur, die in einer Klatsch-und-Tratsch-Rubrik einen prominenten Schriftsteller mit den Worten zitiert, er habe „aufgegeben“.

Ich kann darüber keine Kolumne schreiben.

Denn die Wahrheit ist: Die meisten Menschen haben aufgegeben. Sie würden sich das nie eingestehen, aber sie ziehen es vor, nicht wahrzunehmen, dass sie auf einem Planeten leben, der nach und nach verschwindet. Die meisten Menschen starren auf leuchtende Rechtecke in ihren Händen, während die Arktis schmilzt und über eine Milliarde Tiere sterben. Die meisten Menschen befinden sich in Räumen, in denen sie nur noch ihre eigenen Echos hören. Und je mehr sie aufgeben, desto weniger wissen sie, was sie aufgeben.

Das hier ist also meine fünfzigste Kolumne, und zu diesem Anlass wünsche ich mir von Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, dass Sie einmal für eine Weile auf etwas blicken oder etwas tun, was nicht Sie sind. Etwas, das keine menschliche Obsession, menschliche Verzagtheit, menschliche Angst spiegelt. Fahren Sie aus der Stadt raus und blicken Sie in einer wolkenlosen Nacht in den Sternenhimmel. Suchen Sie nach der Spur von Wölfen in einem Wald. Hören Sie einem fernen Gewitter zu. Blicken Sie in die Augen einer Katze. Blicken Sie auf die Ausdehnung der Luft über den Dingen.

Blicken Sie, wenn Sie können, auf das Meer im Februar.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

 

Kommentare

Bild des Benutzers Jasmine

Wir wissen alle, in welchen Dimensionen Raubbau an der Natur verübt wurde. Wir wissen ebenso, in welchem Umfang die Erde verschmutzt, zugemüllt und zerstört wurde.
Aber dieser Pessimismus geht mir effektiv zu weit. Die Welt ist verloren? Die Schönheit dieser Erde? Alles Ursprüngliche soll verschwunden sein?
Das Meer, das Sie Anfang Februar sahen, ist effektiv zugemüllt, aber in seiner Stärke und Schönheit ist es das Meer, das es schon vor Jahrhunderten gab. Für mich ist es auf keinen Fall verloren.

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