20. März 2017 3 Likes

Eine von uns

Nur mal so gefragt: Sind Science-Fiction-Fans in ihrer Mehrheit Vegetarier?

Lesezeit: 8 min.

Wie hat es sich angefühlt?

Wie hat es sich angefühlt, als erstes empfindungsfähiges, denkendes Lebewesen die Erde zu verlassen? Die Schwerelosigkeit zu spüren? Die Distanz zu unserem Heimatplaneten? Die Nähe zu den Sternen?

Wir wissen es nicht. Denn das erste empfindungsfähige, denkende Lebewesen, das die Erde verlassen hat, ist nicht lebend zur Erde zurückgekehrt. Ja, es war nie beabsichtigt, dass es lebend zur Erde zurückkehrt. Die Hündin Laika starb während des Flugs von Sputnik-2 am 3. November 1957 einen qualvollen Hitzetod.

Aber was ist das eigentlich für eine Frage – wie sich dieser Weltraumflug für eine Hündin angefühlt hat? Kaum jemand, schon gar nicht die für das sowjetische Raumfahrtprogramm zuständigen Entscheidungsträger, hat sich damals über diese Frage allzu viele Gedanken gemacht; schließlich ging es um wissenschaftliche Erkenntnisse; schließlich ging es darum, die eigentliche Großtat vorzubereiten, nämlich den ersten Menschen ins All zu befördern und wieder zur Erde zurückzubringen – lebend, versteht sich. Vor diesem Hintergrund war das Schicksal der Hündin Laika lediglich eine weitere praktische Anwendung der Descartes’schen Sichtweise, dass Tiere keine den Menschen vergleichbare Empfindungen haben und dass der Mensch sie sich daher auf vielfache Weise nutzbar machen kann.

Diese Sichtweise hat sich in den letzten Jahren merklich gewandelt, durch neue Forschungsergebnisse, die kognitiven und sensitiven Eigenschaften von Tieren betreffend (die berühmte Frage von Jeremy Bentham, ob „sie leiden können“, ist ohnehin längst beantwortet), vor allem aber auch durch einen gesellschaftlichen Diskurs, der das traditionelle, anthropologisch auf mehr als wackligen Beinen stehende Mensch-Tier-Verhältnis zunehmend hinterfragt. Und so landen aktuell Bücher wie „Das Seelenleben der Tiere“ oder „Tiere denken“ auf den Bestsellerlisten, zieren politische Magazine ihre Cover mit Bildern von Schweinen und Kühen, sieht sich der Agrarminister genötigt, auf die massive Kritik an den Haltungsbedingungen in der industriellen Landwirtschaft zu reagieren. Ja, wir kümmern uns jetzt endlich um die Tiere, wir haben endlich verstanden, dass wir sie nicht länger so schäbig behandeln dürfen.

Oder?

Leider ist die Debatte um die Art und Weise, wie wir es mit den Tieren halten, eine jener gesellschaftlichen Debatten, in denen die gefühlte Wahrnehmung und die tatsächliche Situation eklatant auseinanderfallen. Gefühlt wird ständig eine neue Maßnahme ergriffen, um insbesondere den Nutztieren das Leben erträglicher zu machen; tatsächlich ist die so billig wie möglich produzierende Tierfabrik nach wie vor absoluter Standard und die von Politik und Wirtschaft initiierte „Tierwohl“-Kampagne ein zynischer Scherz. Gefühlt haben sich Vegetarismus und Veganismus zu einem Megatrend entwickelt, der den Fleischessern moralisch auf die Pelle rückt; tatsächlich sind, laut einer aktuellen Studie des Robert-Koch-Instituts, gerade mal vier Prozent der Deutschen Vegetarier und ein Prozent Veganer, also keine Größe, der die Politik in irgendeiner Form Beachtung schenken muss. (Wenn bei einer Nachwahldiskussion im Fernsehen mal kurz gelacht werden soll, fällt nicht selten der Satz „Da hat ja sogar die Tierschutzpartei mehr Stimmen“.)

Worüber wir also tatsächlich reden, sind weniger politische als persönliche Entscheidungen, und insofern ist es wohl angemessen, an dieser Stelle auch persönlich zu werden. In meinem Fall war es so, dass das Nachdenken über besagtes Mensch-Tier-Verhältnis irgendwann, recht spät im Leben, eine mentale Grenze erzeugte, die ich seither nicht mehr zu überwinden in der Lage bin: die es mir seither zum Beispiel nahezu unmöglich macht, Fleisch zu essen. Ich rechne nicht damit, dass diese Grenze eines Tages wieder verschwinden wird (auch der Gedanke an das sich noch im Experimentalstadium befindliche und durchaus unterstützenswerte „In-Vitro-Fleisch“ ändert daran nichts; es ist wirklich leichter, als man denkt, sich vom Fleischkonsum zu entwöhnen), aber ich habe das nie als ein in dem Sinne exemplarisches Verhalten gesehen, dass ich andere Menschen zum Vegetarismus nötigen will, sondern eben nur in dem Sinne, wie wir uns alle exemplarisch verhalten, wenn wir das eine tun und das andere lassen: als bewusst getroffene Entscheidung, als Möglichkeit.

Ja, um ehrlich zu sein, habe ich im Laufe der Zeit sogar weitgehend das Interesse daran verloren, mit Fleischessern über das Thema Ernährung zu diskutieren, denn ein solches Gespräch findet in aller Regel auf einem äußerst dürftigen Niveau statt. So bin ich noch nie – und ich meine wirklich: noch nie – einem Fleischesser begegnet, der sich mit den Voraussetzungen und Konsequenzen der von ihm (oder ihr) geübten Praxis ernsthaft auseinander gesetzt und auf Basis dieser Auseinandersetzung den Entschluss gefasst hat, trotzdem Fleisch zu essen. Worin Fleischesser dagegen ziemlich geübt sind, ist das Werfen argumentativer Nebelkerzen. Wie etwa: „Naturvölker essen auch Fleisch“ (als hätte unsere hiesige Lebensweise generell noch irgendetwas mit Natur zu tun). Oder: „Beim Ernten eines Feldes werden doch auch Tiere getötet“ (als ginge es darum, irgendein unangreifbares moralisches Ideal zu propagieren). Oder: „Es bringt doch nichts, wenn ich kein Fleisch mehr esse und Milliarden andere Menschen tun es“ (als würde irgendjemand den Auftrag erteilen, gleich die ganze Welt zu retten). Oder der unverwüstliche Klassiker: „Menschen brauchen Fleisch einfach als lebensnotwendige Nahrung“ (als würde das inzwischen nicht jeder halbwegs seriöse Mediziner in Abrede stellen). Auf Sätze wie „Hitler war ja auch Vegetarier“ will ich gar nicht näher eingehen, zumal ich ohnehin nicht glaube, dass all diese Argumente strategisch gezielt vorgebracht werden, sondern eine tendenziell unbewusste Ablenkung von der Tatsache sind, dass man einfach so weiterleben will wie bisher. Weil man es so gewohnt ist. Weil es eben gut schmeckt. Weil man sich von irgendwelchen Gutmenschen nicht den Appetit verderben und kein schlechtes Gewissen machen lassen will.

So weit, so banal. Trotzdem will mich hier nicht einfach hochnäsig herausmogeln, sondern Ihnen die Gelegenheit geben, meine persönliche Motivation zu kritisieren. Also weiter: Als ich mich noch auf entsprechende Diskussionen einließ, habe ich als Antwort auf die Frage, warum ich kein Fleisch mehr esse, aus den zur Auswahl stehenden Gründen (neben ethischen gibt es ja auch zahlreiche umwelt-, gesundheits-, entwicklungs- und wirtschaftspolitische Gründe) jenen genommen, der mir der stärkste schien: aus Mitleid. Mitleid mit Schweinen, die in ihren Exkrementen vor sich hin vegetieren, nur damit wir ihr Fleisch für ein Schnäppchen kaufen können. Mitleid mit Puten, deren Brustmuskulatur so aufgebläht ist, dass sie kaum stehen können, nur damit sie möglichst viele Schnitzelportionen ergeben. Mitleid mit männlichen Küken, die kurz nach dem Schlüpfen getötet werden, nur damit das tägliche Frühstücksei schön günstig ist. Mitleid mit Affen, deren Lebensraum vernichtet wird, nur damit unsere Schokolade mit Palmöl verfeinert werden kann … Die Liste ist unendlich fortsetzbar, und sie macht unendlich traurig.

Doch je länger ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu der Erkenntnis, dass Mitleid vielleicht doch nicht der stärkste Grund ist, ja dass es womöglich sogar ein fehlgeleiteter Grund ist. Denn auch Mitleid ist ein Reflex jenes unsäglichen Paternalismus, mit dem die Menschheit der Natur und allem, was darin ist, seit jeher gegenübertritt: Wir sind diejenigen, die Hierarchien festlegen; die Regeln aufstellen; die dieses ganze Schlamassel ordnen. Nun, das sind wir wohl, aber man muss noch nicht einmal auf die völlig willkürliche Unterscheidung zwischen Nutz- und Haustieren hinweisen oder auf den Umstand, dass wir zu unserem Vergnügen Arten züchten, die kaum lebensfähig sind, man muss sich einfach nur unser beschämtes Ausblenden jeglicher Gedanken an die Vorgänge in einem Schlachthof vergegenwärtigen, um zu erkennen, dass all diese Hierarchien und Regeln und Ordnungssysteme die menschliche Intelligenz beleidigen. Dass wir die Tiere zum festen Bestandteil unserer Nutzen- und Spaßmaximierung gemacht haben und dies hinter einer kruden Wohlfühlrhetorik verstecken. Dass wir, trotz jahrzehntelanger tierethischer und tierphilosophischer Debatte, schlicht keinen Respekt vor den Tieren haben.

Und so ist es nicht (oder nicht nur) Mitleid, wenn ich auf Fleisch verzichte und auch sonst versuche, möglichst wenig tierische Erzeugnisse zu konsumieren. Sondern ich will nicht, dass wir es sind, die definieren, was ein Tier zu sein hat und wann es leidet. Das ist ein feiner, aber weitreichender Unterschied: Wenn ich nicht will, dass wir die Tiere unseren erratischen Zwecken unterordnen, nur weil wir es können, nur weil wir stärker sind, dann gestehe ich ihnen eine Sphäre zu, in der wir nichts verloren haben. Dann gebe ich einen Teil der Macht über die Natur – und die Menschheitsgeschichte ist im Kern nichts anderes als die Akkumulation und Verfeinerung dieser Macht – ab. Dann mache ich mir bewusst, dass bestimmte Aspekte unseres alltäglichen Handelns grundsätzlich falsch und durch nichts zu rechtfertigen sind.

Das ist kein einfacher Schritt, und er ist auch nicht der Vollzug eines in sich kohärenten philosophischen Programms; ich weiß natürlich, dass etliche der sich daraus ergebenden Konsequenzen dem gegenwärtigen Bild, das der Mensch von sich selbst hat, so sehr zuwiderlaufen, dass sie kaum nachvollziehbar sind. Aber ich meine, dass wir diesen Schritt in die Zukunft gehen sollten, in eine Zukunft, in der wir die, wie Giorgio Agamben es einmal genannt hat, „anthropologische Maschine“ der permanenten Abgrenzung zu allem, was kein Mensch ist, überwinden und uns als eine Lebensform unter vielen auf der Erde begreifen – nicht nur um zu einer besseren Verständigung mit unseren planetaren Mitbewohnern zu kommen, sondern auch zu einer besseren Verständigung mit uns selbst.

Ich gebe zu, das klingt nun ein wenig nach Science-Fiction. Und tatsächlich könnte es Science-Fiction-Fans auch leichter als anderen Menschen fallen, diesen Schritt zu gehen. Denn immerhin ist die Science-Fiction jene Kunstform, die sich damit auseinandersetzt, was geschieht, wenn der Mensch lernt, dass er Teil von etwas ist. Die Science-Fiction macht den Hintergrund – also all das, was „Welt“ beinhaltet und was in der realistischen Literatur lediglich die Kulisse für mehr oder weniger dramatische Psycho-Konflikte bildet – zum Vordergrund. In der Science-Fiction ist eine nicht-menschliche Lebensform kein Derivat menschlicher Neurosen, sondern: eine Lebensform. Ein Geschöpf, das nach seinen eigenen Regeln lebt und auf seine eigene Weise versucht, ein gutes Leben zu führen.

Es ist natürlich auch insofern Science-Fiction, als ich nicht die Hoffnung habe, dass wir in meiner Lebenszeit zu solch einer neuen Verständigung kommen. Es ist ein Projekt, das sich über viele Generationen erstreckt. Aber irgendwann muss man mal damit anfangen, und wer weiß: Vielleicht werden sich ja die Menschen, die eines Tages dauerhaft auf dem Mars leben werden, vegetarisch ernähren. Ich würde es mir wünschen. Und ich würde mir wünschen, dass wir nicht nur Juri Gagarin oder Neil Armstrong oder später einmal der Frau, die als erster Mensch auf dem Mars landen wird, ein angemessenes Denkmal setzen, sondern auch jenem Lebewesen, das zum ersten Mal gefühlt hat, wie es ist, den Planeten Erde zu verlassen. Dieses Lebewesen war kein Mensch, es war eine Hündin.

Und trotzdem war sie eine von uns.
 

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