6. April 2023 4 Likes 1

Kontraste

Über eine interessante (und traurige) Erkenntnis auf unserem Weg ins tiefe 21. Jahrhundert

Lesezeit: 5 min.

Es gibt eine Meditationstechnik, bei der man nicht, wie sonst üblich, die Augen für eine Weile schließt, sondern sie immer wieder auf- und zumacht, während man meditiert. Diese Technik wird Menschen empfohlen, die sich in sich selbst verlaufen haben. Es geht darum, die Welt wieder in ihren Kontrasten wahrzunehmen. Zu erkennen, dass zwischen Innen und Außen ein Unterschied besteht. Das ist sowohl eine Meditation als auch eine epistemische Praxis. Und man sollte sie der Gesellschaft insgesamt empfehlen.

Das ging mir durch den Kopf, als ich vor einigen Tagen in München mit dem Fahrrad an einer jener Protestaktionen vorbeikam, bei denen sich Klimaaktivsten an die Straße kleben und damit den Verkehr blockieren. Es war sehr interessant, das zu beobachten. Denn obwohl es diese Protestform noch nicht lange gibt, schien alles ziemlich routiniert abzulaufen. Die Aktivisten diktierten den Journalisten ihre Forderungen in die Blöcke, die Polizisten warteten auf die Anti-Kleber-Sondereinheit (die gibt es in München wirklich), und die Autofahrer (hier ist das Maskulinum nicht generisch) gaben ihre Empörungsformeln von sich: „Protestiert doch in China!“ – „Deutschland tut doch schon ganz viel für das Klima.“ – „Das ist nichts anderes als Terrorismus.“ – „Ich bin ja für mehr Klimaschutz, aber dafür habe ich kein Verständnis.“ – „Die Welt geht doch nicht unter, die Erde ist auch nach uns noch da.“

Möglicherweise waren einige der Autofahrer, die sich nicht äußerten, auf der Seite der Aktivisten (ich wäre es gewesen, aber es kommt nicht allzu häufig vor, dass ich in einem Auto sitze). Insgesamt jedoch war die Stimmung ihnen gegenüber eher feindselig, was mich nicht verwundert hat, denn Medien und Politik zeigen kaum Sympathien für diese spezifische Protestform, weshalb sich inzwischen auch der diffamierende Begriff „Klimakleber“ bis in die feinsten gesellschaftlichen Verästelungen durchgesetzt hat.

Das alles war, wie gesagt, sehr interessant. Und es war sehr traurig. Denn am Vortag der Protestaktion war der aktuelle IPCC-Bericht vorgestellt worden. Darin heißt es unmissverständlich, dass es nicht mehr „fünf vor zwölf“ ist (kurioserweise war es über zwanzig Jahre lang „fünf vor zwölf“), sondern dass die Menschheit inzwischen in die Phase des Krisenmanagements eingetreten ist. Die Klimakatastrophe ist in vollem Gang, und die Frage, mit der wir uns nun konfrontiert sehen, ist: Wie schlimm wollen wir es haben? Sehr schlimm oder überschaubar schlimm? Der Trend geht Richtung „sehr schlimm“, was junge Menschen, die die Sache werden ausbaden müssen, berechtigterweise zum Verzweifeln bringen kann, und genau so verstehe ich auch ihre Protestaktionen: als Akte der Verzweiflung. Ich kann nicht alles davon nachvollziehen, ich finde es etwa ziemlich bescheuert, Kunstwerke zu beschädigen. Aber nichts – nichts – kann jemals so bescheuert sein, wie einen Planeten, auf dem man lebt, in weiten Teilen unbewohnbar zu machen.

Der aktuelle IPCC-Bericht trieb die empörten Autofahrer offenbar nicht sonderlich um. Als hätten sie mit alldem nichts zu tun – als würde der Individualverkehr nicht massiv zum Aufheizen der Atmosphäre beitragen, als wären die Autoverkäufe in Deutschland nicht auf einem Rekordhoch –, wollten sie nur eines: weiterfahren. Ihr Leben so weiterleben, wie sie es gewohnt sind. Und das wiederum ist ein Phänomen, das weit über die Gruppe der Autofahrer hinausreicht. Ja, leider denken die allermeisten Menschen so wie diese Autofahrer.

Die Klimakrise wird ja mitunter als „Problem aus der Hölle“ bezeichnet, denn die Evolution hat Homo sapiens bekanntermaßen mit einem present bias ausgestattet. Das heißt, wir gewichten die Gegenwart prinzipiell stärker als die Zukunft, was sich mit einem Vorgang, bei dem exponentielle Entwicklungen einerseits und die Trägheit physikalischer Prozesse andererseits entscheidende Rollen spielen, denkbar schlecht verträgt. Aber wie ist es zu erklären, dass wir das Verdrängungsspiel munter weiterspielen, obwohl uns die Zukunft inzwischen eingeholt hat (und das übrigens schneller als von der Wissenschaft vorhergesagt)? Zum Jahreswechsel wurden in Europa erneut sämtliche Temperaturrekorde geknackt. In Frankreich und Italien herrscht schon jetzt eine verheerende Dürre. In Kalifornien ist der meteorologische Ausnahmezustand zu einem neuen Normal geworden. Und so weiter. Schockiert uns das alles? Bringt es uns endlich zum Handeln? Nicht wirklich.

Neben dem present bias ist hier also noch eine andere kognitive Verzerrung am Werk, und wenn irgendwann einmal ein (vielleicht auf einem nicht-kohlenstoffbasierten Trägermaterial implementiertes) Historikerkollektiv das tiefe 21. Jahrhundert aufarbeitet und analysiert, warum die menschliche Zivilisation damals gescheitert ist, wird es diese Verzerrung wohl ganz besonders in den Blick nehmen. „Im 21. Jahrhundert“, so könnte in der Analyse stehen, „haben die meisten Menschen das Gefühl für die Kontraste in der Welt verloren. Sie waren nicht mehr in der Lage, zwischen der menschlichen Binnenwelt mit ihren Konflikten und Sensationen und dem planetaren Außen, von dem alle irdischen Lebewesen existentiell abhängen, zu unterscheiden. Anders ausgedrückt: Sie haben sich in sich selbst verlaufen.“

Okay, das war jetzt Science-Fiction. Aber wie sonst soll man erklären, dass unsere Unzulänglichkeiten bestehen bleiben, obwohl wir die Folgen dieser Unzulänglichkeiten nicht nur intellektuell erfassen, sondern ihnen auch längst ausgesetzt sind? Wie sonst soll man erklären, dass Politiker den schnelleren Bau von Autobahnen mit der prognostizierten Zunahme des Verkehrs in den kommenden Jahren begründen? Wie sonst soll man erklären, dass selbst jene Menschen, die den Klimaaktivisten wohlgesonnen sind, meinen, es mache sich doch in jeder Generation die Stimmung breit, dass die Welt vor dem Abgrund steht? Dass jetzt gerade etwas völlig Neues, historisch Einmaliges geschieht, ignorieren diese Menschen fröhlich, denn eigentlich wollen sie nur eines: ihr Leben so weiterleben, wie sie es gewohnt sind.

Man könnte das Ganze als absurdes Theater inszenieren (und mein Verdacht ist, dass nicht wenige Menschen es auch als solches wahrnehmen), wäre da nicht die unangenehme Wahrheit, dass es geschehen wird. Und darüber, was es nun genau sein wird, braucht sich man sich auch nicht mehr groß den Kopf zerbrechen. Es wird das sein, was jetzt schon geschieht, nur hundertfach verstärkt. Die nächsten Jahrzehnte werden für die Menschheit extrem schwierig werden, das steht fest, und das Szenario „sehr schlimm“ ist nur vermeidbar, wenn wir endlich damit aufhören, den Planeten wie eine Müllhalde zu behandeln.

Werden wir das tun? Ich fürchte nicht, solange wir in unserer Binnenwelt feststecken. Nicht, solange wir ignorieren, dass wir Menschen lediglich ein kleiner Teil des Lebens auf dem Planeten Erde sind. Vielleicht ist es also ganz gut, wenn wir, wie in einer therapeutischen Sitzung, einige Schritte zurückgehen. Wenn wir versuchen, ein neues Fundament zu legen. Versuchen, die Welt wahrzunehmen, wie sie wirklich ist. Nämlich voller Kontraste.

Probieren Sie es doch einfach mal. Setzen Sie sich hin. Schließen Sie die Augen. Atmen Sie tief ein. Und wieder aus. Und dann öffnen Sie die Augen wieder.

Was sehen Sie?

 

Sascha Mamczak ist der Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und des Jugendsachbuchs „Eine neue Welt“. Zuletzt ist bei Reclam sein Buch „Science-Fiction. 100 Seiten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

Kommentare

Bild des Benutzers KingLouie

Bin völlig bei den gemachten Ausführungen. Allerdings wurden m.W. bislang keine Kunstwerke tatsächlich "zerstört". Sie waren immer durch Glasscheiben o.ä. geschützt und die verwendeten "Zerstörmaterialien" ließen sich mühelos wieder entfernen. Leider war die Darstellung in den Medien tatsächlich häufig so, dass man den Eindruck gewinnen konnte, die Werke seien beschädigt worden.

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