26. April 2021 5 Likes

Schreiben wir doch einfach mal Geschichte

Krise? Disruption? Epochenwandel? Wir entscheiden, was die Pandemie gewesen sein wird

Lesezeit: 7 min.

In nicht allzu ferner Zukunft wird die Covid-19-Pandemie Geschichte sein. Doch was wir gerade erleben, wird so sicher nicht in den Geschichtsbüchern stehen: das Durcheinander aus Pöbeleien, Beschimpfungen und überreizten Debatten, die man gar nicht mehr Debatten nennen kann; das ganze Genervt-sein und Dagegen-sein-aus-Prinzip und Mir-doch-egal angesichts eines Menschheitsereignisses, das, Stand Ende April 2021, weltweit mehr als drei Millionen Tote gefordert hat; das irritierende Grundrauschen, das entsteht, wenn auf unterschiedlichen politischen Ebenen über die Einschränkungen des Alltagslebens entschieden wird, und zur Folge hat, dass man sich an „der Politik“ abarbeitet.

Umfragen sagen, dass eine Mehrheit der Menschen in Europa die Infektionsgefahr weiterhin sehr ernst nimmt, aber die meisten medialen Outlets werden von jenen dominiert, die den Virus als persönliche Kränkung empfinden. Und so ist die Spätphase der Pandemie auch ein Lehrstück dafür, dass spätere historische Einordnungen wenig damit zu tun haben, wie der entsprechende Zeitabschnitt tatsächlich erfahren und durchlebt wird: Zeitgenossen haben schlicht kein Gespür für die historische Signatur des Gegenwartsgeschehens – es passiert einfach viel zu viel gleichzeitig. (Ein Beispiel von anno dazumal: Aus jenem Zeitabschnitt, in den wir heute den Untergang des Römischen Reiches hineindatieren, ist keine historische Quelle bekannt, aus der hervorgeht, dass damals irgendetwas zu Ende ging.)

Als der Zeitgenosse, der ich nun zweifellos bin, habe ich also keine Ahnung, wie Historikerinnen und Historiker des, sagen wir, frühen 22. Jahrhunderts die Pandemie der Jahre 2020 und 2021 einmal einordnen werden. Aber ich habe eine diesbezügliche Hoffnung. Ich hoffe, dass die Pandemie im Rückblick einer von mehreren Aspekten gewesen sein wird, die die globale Gemeinschaft dazu gebracht haben, das menschliche Tun auf dem Planeten Erde nicht nur zu hinterfragen, sondern fundamental zu verändern. Konkreter: Ich hoffe, dass zwei Tatsachen in den kommenden Jahrzehnten eine viel größere gesellschaftliche Wirkung entfalten werden, als wir jetzt gerade, im dröhnenden Lärm der Gegenwart, annehmen – zum einen die Ursache für die Pandemie, zum anderen der einzig vernünftige Schluss daraus.

Zur Ursache: Es gibt kaum einen Zweifel daran, dass SARS-CoV-2 das direkte Resultat eines fatalen menschlichen Eingriffs in die Natur war. Wo und wie genau das Virus auf den Menschen übergesprungen ist, wissen wir noch nicht und werden wir vielleicht auch nie wissen. Die wahrscheinlichste Quelle ist jedenfalls eine wilde Fledermausart, die in Zentralchina vorkommt. Nun pflegt man in diesem Teil der Welt bekanntermaßen einen eher laxen Umgang mit exotischen Tierarten, woraus für andere Völker allerdings kein Grund abzuleiten ist, es sich in dieser Hinsicht moralisch gemütlich zu machen: Praktisch alle Pandemien der neueren Geschichte, ob Spanische Grippe oder AIDS, hatten ihren Ursprung in einem sogenannten Spillover, dem Übergang eines Virus vom Tier auf den Menschen. So etwas hat sich wohl immer wieder ereignet, seit es Menschen gibt, doch im Zeitalter globaler Mobilität wird daraus eben schnell eine Pandemie. Insofern war Covid-19 auch kein „Schwarzer Schwan“; es gab in den letzten Jahren reichlich Warnungen vor einem solchen Szenario.

Daraus kann man nur einen vernünftigen Schluss ziehen: Wir müssen unsere Eingriffe in die Natur nicht nur reduzieren, sondern unser ganzes Verhältnis zur Natur auf eine neue Basis stellen. Und das wiederum heißt, ein Narrativ infrage zu stellen, das unser Leben seit einigen Generationen fest im Griff hat: dass unser Wohlstand nur durch quantitative Steigerung erhalten werden kann, dass es ein gutes Leben nur dann gibt, wenn wir uns rast- und restlos dafür aufarbeiten.

Dieses Narrativ ist nämlich völlig absurd, denn quantitative Steigerung bedeutet immer mehr Naturverbrauch, was zu immer mehr Katastrophen wie der Covid-19-Pandemie führen wird, die es immer teurer und aufwendiger machen werden, jenen Wohlstand zu erhalten, für den wir das alles eigentlich veranstalten. Bis wir die Katastrophen eines Tages mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln gar nicht mehr in den Griff kriegen werden. Wenn wir nämlich so weitermachen, wird alles kollabieren, was uns Sicherheit gibt: die Nahrungsmittelproduktion, der Zugang zu Trinkwasser, lebensfreundliche Temperaturen, die Nahrungsketten im Ozean.

Es ist äußerst bedauerlich, dass diese zwei Tatsachen in den vergangenen zwölf Monaten, soweit ich das wahrgenommen habe, kein Thema einer Bundestagsdebatte oder prominent besetzten Talkshow waren und auch sonst in den öffentlichen Diskussionsforen spätestens seit dem zweiten Lockdown keine große Rolle mehr gespielt haben. Die Spekulationen über ein anderes, nachhaltigeres Danach sind verstummt oder wurden in den akademischen Raum zurückverlagert, und jetzt geht es eigentlich nur noch darum, wie wir baldmöglichst in die „Normalität“ zurückkehren können. Das Mittel der Wahl dafür: so schnell wie es eben geht einen Großteil der Bevölkerung zu impfen.

Bitte verstehen Sie mich hier nicht falsch. Ich bin sehr froh, dass es in kürzester Zeit gelungen ist, einen Impfstoff zu entwickeln, und kann es kaum erwarten, endlich meinen Piks in den Arm zu bekommen. Jeder Geimpfte trägt dazu bei, dass weniger Menschen an dieser schlimmen Krankheit sterben. Aber meine Sorge ist, dass in diesem Sommer, wenn die Impfkampagne ihre Wirkung zeigt, nicht nur das große Vergessen einsetzt, sondern sich auch die gefährliche Illusion breitmacht, wir könnten sämtlichem Unbill, den uns die Natur bereitet, mit technischen Lösungen begegnen. Impfen ist ganz sicher die Lösung für diese Pandemie, aber es steht nicht für „die Lösung“ insgesamt, denn die Pandemie ist nur ein Epiphänomen einer umfassenderen menschengemachten Katastrophe, die darauf hinausläuft, dass die allermeisten Ökosysteme der Erde bald zusammenbrechen und weite Teile des Planeten unbewohnbar sein werden (manche sind es schon). So viele Impfstoffe könnten wir gar nicht erfinden, wie wir dann bräuchten, ganz abgesehen davon, dass Spillover in einer solchen Zukunft nur eines von sehr vielen existentiellen Problemen sein werden.

In Wahrheit gibt es also nur eine Lösung, so abgehoben sie auch klingen mag: Wir Menschen müssen lernen, nicht gegen die Natur, sondern mit ihr, besser gesagt: in ihr, zu leben. An Ideen, wie das funktionieren könnte, mangelt es – von Ursula K. Le Guin über Edward O. Wilson bis António Guterres – wahrlich nicht, aber die meisten unserer Zeitgenossen haben das absurde Narrativ von der Wohlstandbewahrung durch quantitative Steigerung inzwischen so verinnerlicht, dass sie sich nicht vorstellen können, wie man die Welt ohne massive technische Eingriffe „retten“ könnte. Die meisten Menschen haben sich so weit von der Natur entfernt, dass Natur für sie kein Wert an sich mehr ist, sondern prinzipiell angepasst, verbessert oder auch aus dem Weg geräumt gehört. (Einem einschlägigen Wirtschaftsmagazin habe ich kürzlich den Vorschlag entnommen, dass wir das Problem des Spillover dadurch lösen können, indem wir uns einfach jener Tierarten entledigen, die uns in dieser Hinsicht gefährlich werden könnten. Das wird allerdings ziemlich kompliziert auf einem Planeten, auf dem in Säugetieren und Vögeln an die zwei Millionen Virustypen existieren, von denen die Hälfte das Potential für einen Spillover hat.)

Warum habe ich dann überhaupt Hoffnung, dass die Pandemie der Jahre 2020 und 2021 in den Augen künftiger Historikerinnen und Historiker ein transformatives Ereignis zu einer, wie man so schön sagt, besseren Welt gewesen sein wird?

Vielleicht deshalb: Neben all den Pöbeleien und dem Genervt-sein, all der Frustration und der dadurch ausgelösten Aggression, neben all dem also, was medial so viel Raum einnimmt, muss man im Frühjahr 2021 auch feststellen, dass es keinen gesellschaftlichen Zusammenbruch gegeben hat, keine Aufstände, keinen Bürgerkrieg. Der soziale Kitt hat gehalten, was doch ziemlich überraschend ist, wenn man sich überlegt, wie sehr unser „normales“ Leben auf den Kopf gestellt wurde.

Das Wesen des Menschen ist äußerst vielfältig. Menschen können selbstsüchtig und fürsorglich, genial und dumm, gewalttätig und friedlich sein. Aber in ihrer überwiegenden Mehrheit sind sie offenbar zu einem in der Lage: Wenn es hart auf hart kommt, akzeptieren sie die Grenzen, die ihnen von außen gesetzt werden. Und so gründet meine Hoffnung schlicht darauf, dass wir verstehen, dass nicht nur SARS-CoV-2 eine solche Grenze markiert, sondern auch die Stabilität des Klimas, die Artenvielfalt auf der Erde und viele andere Dinge, mit denen wir es im Laufe des 21. Jahrhunderts auf eine Weise zu tun bekommen werden, die uns die jetzige Pandemie trotz der vielen Toten geradezu harmlos erscheinen lassen wird. Meine Hoffnung gründet darauf, dass wir das verstehen und daraus ein neues, besseres, in sich stimmiges Narrativ entwickeln, wie man Wohlstand definiert und erhält.

Ob das zu Beginn des 22. Jahrhunderts wirklich so in den Geschichtsbüchern stehen wird, werde ich leider nie erfahren. Aber ich kann etwas dafür tun. Und Sie auch.

Oder um es mit dem größtmöglichen popkulturellen Wumms zu sagen: Das ist der Weg.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft – Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Zuletzt ist sein mit Martina Vogl geschriebenes Jugendbuch „Eine neue Welt“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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