22. Januar 2018

Die Ewigkeitskosten und das Paradies

Wie auf Erden, so auch darunter? Über eine klassische Science-Fiction-Spekulation

Lesezeit: 5 min.

Neulich hatte ich Gelegenheit, eine Lektüre nachzuholen, die mir seinerzeit entgangen war: Ich las den Roman „Aus den Tiefen der Erde“ von Kurt Mahr, der anno 1961 in der Reihe „TERRA – Utopische Romane“ erschienen ist.

Die vom Moewig Verlag publizierten Romane zeichneten sich durch ein schickes BVB-Design aus, schwarz und gelb; in der Bundesrepublik Deutschland musste man siebzig Pfennig für das Heft auf die Ladentheke legen, in Österreich gar vier Schilling; Preisangaben für die Schweiz, Italien und Luxemburg fehlten damals noch, und die für Belgien, die Niederlande, Frankreich, Spanien, Portugal und Griechenland, die heute beispielsweise die Titelbilder der G.-F.-Unger-Western zieren, sowieso.

Ich mag diese Preisangaben, zeigen sie doch an, erstens wohin sich der deutsche Tourismus in der Hauptsache orientiert, und zweitens wie wenig Lust der Tourende hat, sich am Ziel auch mal auf die Landessprache einzulassen, weswegen er auch an fernen Gestanden lieber deutsche Western von deutschen Westernautoren liest.

Ein von deutschen Touristen weitgehend noch unentdecktes Land ist der Ort, an dem besagter Mahr-Roman spielt: das Innere der Erde nämlich.

Ja, das Innere der Erde ist ein beklagenswert unerschlossenes Land. Hier gäbe es viel zu tun wie zu besichtigen – ich schreibe das als Ruhrgebietler, Bewohner einer Region, die sich dank Bergbau dreißig Meter abgesenkt hat, einer völlig untergrabenen Gegend, die, würden nicht über tausend Pumpwerke Tag und Nacht pumpen, alsbald in den Fluten versinken würde. Die meisten dieser Pumpwerke liegen ebenfalls unter der Erde, wenn auch meist nicht mehr als zwanzig Meter tief; die Erde selbst ist hierzulande bis in eine Tiefe von tausend Metern ausgehöhlt.

So wird gepumpt, dass es eine Freude ist; hundert Millionen Euro Betriebskosten pro Jahr kostet der Spaß, und da des Spaßes kein Ende sein wird, spricht man zu Recht von Ewigkeitskosten. (Was das in Schilling wäre, ist kaum auszudenken.) Das Pumpen soll übrigens nicht nur das Absaufen des ganzen Gebiets verhindern, sondern auch dass sich das Grubenwasser mit dem Grundwasser vermischt. Denn da besagtes Grubenwasser allerlei Salze, Mangan, Eisenoxide und Nickelsulfat enthält, gilt es als wenig bekömmlich.

Wer für die Pumpen und ihre Wartung aufkommt? Die im Jahr 2007 gegründete RAG-Stiftung, die ab dem Jahr 2019 aus einem Vermögen von knapp über vierzehn Milliarden Euro Zinsen schöpfen soll, mit denen die Kosten gedeckt werden sollen. Sollte, söllte, sölltete aber aus völlig unvorhersehbaren Gründen (zum Beispiel niedrigeren Zinsen als erhofft) besagte Stiftung sich überfordert sehen, dürfen wir getrost sein: Denn dann „stellen die Kohleländer NRW und Saarland sowie der Bund auf Grund ihrer Gewährleistung die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung“ (Zitat aus: Deutsche Wirtschafts Nachrichten vom 12.11.2013) – dann zahlen, mit anderen Worten, die Steuerzahler die von der Industrie verursachten Belastungen. Wären da die Einnahmen, die aus unterirdischem Tourismus flössen (Rudern auf den subterranen Nickelsulfat-Seen, Besichtigung der Pumpwerke etc.), nicht ein willkommenes Zubrot?

In den 1960er Jahren plagten einen solche Sorgen wenig; da war es üblich, das Erdinnere als wohlig-sicheren Ort zu betrachten. In dem von Günter M. Schelwokat gedichteten Vorwort zu Mahrs Roman heißt es: „Wenn man an die von politischer Hochspannung und Kriegsfurcht erfüllte Welt denkt, in der wir heute leben, so mag die Möglichkeit, die Kurt Mahr aufzeichnet, vielen von uns als rettender Ausweg erscheinen: die Rückkehr in den Schoß von Mutter Erde.“

In der Tat: Vielen mochte es so erscheinen. Meine Verwandten, insoweit sie untertage tätig waren (ich erinnere in diesem Zusammenhang an meinen legendären Onkel Fritz, der mindestens einmal im Jahr alle Zimmer seiner Wohnung tapezierte und sich anerbot, auch in den übrigen Wohnungen unseres Clans für Tapetenwechsel zu sorgen), die Bergleute unserer Familie also waren durchweg anderer Meinung. Sie erlebten tagtäglich, dass der Schoß von Mutter Erde so anheimelnd nicht ist, wie Schelwokat glauben mochte, es sei denn, man hatte ein Faible für Steinstaub, Methan und feurige Schwaden respektive Schlagwetterexplosionen. Vielleicht schlug deswegen ihr Herz auch weniger für utopische Romane aus den Tiefen der Erde als für G.-F.-Unger-Western, die ja meist an frischer Luft spielen. (Beiläufig möchte ich in Erinnerung rufen, dass Unger nach dem Krieg nicht in Dodge City, sondern in Gelsenkirchen lebte.)

Kurt Mahr ist ein Pseudonym für Klaus Mahn; er war Physiker, Computerfachmann und arbeitete auch nicht im Bergbau, sondern ging in die USA, um am dortigen Raketenprogramm mitzuwirken; 1968 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an. In seinem Roman, den ich auf einem Balkon in Meran gelesen habe, auch am Abend, als schon die Venus über dem Ifinger aufgegangen war, in diesem Roman geht es darum, dass Menschen sich vor dem Atomkrieg in den Schoß von Mutter Erde geflüchtet und dort im Laufe der Zeit ihre Herkunft vergessen haben. Unsere Helden leben in der unterirdischen Stadt FARSITE, die – wie andere versunkene Städte auch – von Elektronengehirnen regiert wird. Nun haben sie Gerüchte von Städten gehört, die über ihnen liegen sollen. Also brechen die zwei mutigen jungen Männer auf, um diesen Gerüchten auf den Grund zu gehen, und tatsächlich finden sich in den höheren Schichten der Erde andere Städte. Manche ähneln FARSITE, andere nicht. Irgendwann erreichen sie die Stadt FLORENCE, die ein hartes Los gezogen hat, und den Helden wird bald klar, „dass FLORENCE in rapider Dekadenz begriffen war. Die Menschen waren fremdartig gekleidet. Die Mode trieb groteske Blüten. Und nichts kostete Geld.“ Man zerbricht „sich ein paar Tage lang den Kopf darüber, wie ein solches geldloses System existieren könne“, findet aber „keine andere Erklärung als die, daß die Stadt tatsächlich vollautomatisiert war“.

Natürlich kann es zu so schauerlichen Mutationen des Sozialsystems nur tief, abgrundtief unter der Erdoberfläche kommen, noch unter den Mangan- und Eisenoxidtümpeln.

Am Ende gelingen die Flucht aus dem dekadenten FLORENCE und der Aufstieg zu Licht und Luft. Oben treffen sie auf eine andere Menschheit, die den Atomkrieg überlebt hat, ohne sich im Erdinneren zu verkriechen: Sie „hatten genug Platz, um sich vor den Bomben zu verstecken und der tödlichen Wirkung ihrer Strahlen zu entgehen. Es hatte Mutationen gegeben; denn drei Generationen lang war die gesamte Erdoberfläche leicht verseucht. Aber sie hatten es überstanden.“

Alles halb so schlimm also. Die Nachfahren der Überlebenden haben längst wieder „eine neue Technik aufgebaut. Sie besaßen Autos, Flugzeuge, Maschinen aller Art und das Geheimnis der Kernkräfte. Aber da sie ein einziges Volk waren, hatte die Atomenergie ihre Schrecken verloren.“ Kurz: Man lebt in einem kernkraftbetriebene Paradies aus Menschenhand.

Ob es hier auch Geld gibt? Das wird nicht ausdrücklich gesagt, doch was wäre ein Paradies ohne Geld? Dem Untergang geweiht und Schlimmerem: der dräuenden Dekadenz!

Gehen wir also davon aus, dass auch im Paradies die Dinge ihren Preis haben werden, dass sie etwas kosten – und dem Paradies angemessen werden es gewiss Ewigkeitskosten sein.
 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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