18. Juni 2018 2 Likes

Ein Geschenk

Vom kurzen Innehalten auf unserer Sturzfahrt in die Zukunft

Lesezeit: 4 min.

Es sind die längsten Tage des Jahres gerade, und man sieht sie zahlreicher in diesen Tagen als sonst: die alten Menschen, leicht nach vorne gebeugt auf Parkbänken sitzend, unter den Blättern großer Bäume, in die der warme Abendwind weht, in denen Eichhörnchen von Ast zu Ast springen. Das heißt, man sieht sie, wenn man sie sieht – denn meistens hasten wir an diesen Menschen vorbei, getrieben von den dumpfen Schlägen unserer Verpflichtungen, unserer durchgetakteten, sich selbst genügenden Leben. Wir haben keine Zeit für sie. Ja, sind sie überhaupt noch Teil unserer Zeit?

Unsere Zeit, so sagt man, ist global, digital, transformativ, disruptiv. In unserer Zeit, so heißt es, geschieht alles simultan, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Hier und Dort, zwischen Absender und Adressat. Alles ist aufeinander bezogen, alles ist vernetzt, alles bewegt sich immer schneller, und an jedem Tag müssen wir etwas Neues lernen, um mithalten zu können. Unsere Zeit, sagt man, ist eine revolutionäre Zeit. Wie sollen, fragen wir uns, die alten Menschen im Park diese Zeit, diese Welt überhaupt noch verstehen? Sie hatten ein ganz anderes Leben und erzählen sich jetzt von Dingen, die es einmal gab, aber längst nicht mehr gibt.

So denken wir und hasten weiter, doch kürzlich, bei einem Spaziergang durch den Park, kam mir ein anderer Gedanke: Vielleicht ist es gar nicht so, dass die alten Menschen diese Welt nicht verstehen. Vielleicht verstehen sie sie zu gut. Vielleicht wissen sie etwas, was wir noch nicht wissen: dass jede Zukunft auf Sand gebaut ist. Dass sich jede Zeit mit großem Pomp und Getöse aufplustert und zur Schau stellt, sich an ihrer „Einzigartigkeit“, ihren „unendlichen Möglichkeiten“ berauscht – und sich, noch während sie das alles tut, in ein Relikt ihrer selbst verwandelt, in eine Zukunft, die sich nicht ereignet haben wird, sich nie ereignen wird, nie so, wie es unseren Träumen entsprach, nie so, wie sie hätte sein sollen.

Dieses Wissen hat nichts Resignatives, ganz im Gegenteil: Dieses Wissen ist bedeutsam, es ist wie ein Stück Treibgut, an dem wir uns festhalten können, während wir in die Zukunft gerissen werden. Und noch mehr: Dieses Wissen ist ein Geschenk, das an uns weitergereicht wird, ohne dass es uns irgendetwas kostet – und wenn wir klug sind, erkennen wir es als Geschenk. Und nehmen es an.

Meistens sind wir nicht klug, aber manchmal schon. Vor drei Jahren an diesen längsten Tagen im Juni ist mein Freund und Kollege Wolfgang Jeschke gestorben (genauer gesagt, war Wolfgang auch für einige Zeit mein Chef, aber mit diesem Begriff, mit einer solchen Konstellation konnte er nichts anfangen). Soweit ich weiß, hat sich Wolfgang in seinen späten Jahren eher selten auf eine Parkbank gesetzt, um Eichhörnchen zu beobachten, sondern er saß am Schreibtisch, um zu arbeiten: an seinem Roman „Dschiheads“ und dann noch an einer Erzählung mit dem Titel „Die Zeit steht still im Herzen der Sterne“, die jedoch unvollendet blieb; seine Kräfte reichten nicht mehr dafür. Diese letzte Erzählung ist eine recht typische und, wenn sie vollendet worden wäre, meisterhafte Wolfgang-Jeschke-Geschichte: über bizarr-exotische Lebensformen auf einem fernen Planeten, über eine so liebevoll wie schonungslos gezeichnete und bis ins kleinste begriffliche Detail durchkonzipierte fremdartige Kultur, über den Aufbruch ins Unbekannte, über die Begegnung zweier Zivilisationen, die nur einen Herzschlag lang dauert und doch epochale Auswirkungen hat. Und sie ist, wie fast immer bei Wolfgang, eine Meditation über die Zeit selbst: ihre unterschiedliche Wahrnehmung, ihr erratischer Verlauf, ihre unausweichliche Präsenz. „Schläfrig reihten sich die Momente aneinander zu einer Kette von Ereignissen“, heißt es da an einer Stelle. „Die Zeit breitete sich aus zu einer Landschaft.“

Gute Science-Fiction-Schriftsteller gewähren uns einen faszinierenden Blick in eine imaginierte Zukunft. Große Science-Fiction-Schriftsteller (und Wolfgang Jeschke zählte zu dieser Gruppe) gewähren uns einen Blick auf die Zukunft an sich – auf die Zukunft als Imagination. Die Zeit breitete sich aus zu einer Landschaft … Wolfgang hat mir im Laufe der Jahre viele Geschenke gemacht – meistens Bücher, die ich unbedingt lesen sollte (was ich tat), oft einen Rat (den ich beherzigte), manchmal nur ein Wort oder eine Geste –, aber als ich diesen Satz las, empfand ich ihn, obwohl er nicht an mich persönlich gerichtet war, als das größte Geschenk. Wolfgangs Zeit war das 20. Jahrhundert, eines der fürchterlichsten der Menschheitsgeschichte, ein Jahrhundert, in dem sich die Zukünfte wechselseitig an die Gurgeln gegangen sind, in dem die Zukünfte einen Tobsuchtanfall erlitten haben. In diesem Jahrhundert hat Wolfgang gelernt, dass sich die Zukunft nicht einfach so irgendwo dort draußen ereignet, sondern dass sie sich in uns ereignet – und dass wir auf die Zukunft, wie auf alles in uns, sehr gut aufpassen müssen.

Die Zeit breitete sich aus zu einer Landschaft. Es sind die längsten Tage des Jahres gerade, aber schon bald überschreitet unser Planet jene magische Grenze, und die Tage werden wieder kürzer, und bald werden die Blätter fallen und dann der Schnee, und die alten Menschen im Park werden weniger, und einige von ihnen werden nicht mehr wieder kommen. Sie haben die Vergangenheit gesehen. Sie haben die Zukunft gesehen.

Sie haben uns ein Geschenk gemacht.
 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft – Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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