14. Oktober 2019

Akute „Terra“-Gefahr!

T.S. Orgel lesen auf dem BuCon in Frankfurt aus ihrem Science-Fiction-Roman – hier eine Kostprobe

Lesezeit: 8 min.

Die Frankfurter Buchmesse 2019 steht vor der Tür, und mit ihr wie jedes Jahr auch der BuCon, dem mittlerweile traditionellen Fantastik-Buchmessecon am Messesamstag in Dreieich bei Frankfurt am Main.

T.S. Orgel: TerraDort haben Tom und Stephan Orgel alias T.S. Orgel diesmal ihr Gastspiel und lesen aus ihrem ersten Science-Fiction-Roman „Terra“ (im Shop). Der Roman hat mittlerweile einiges an Beachtung gefunden – „Terra“ war unter anderem für den Seraph Phantastikpreis, den Kurd Laßwitz Preis sowie den Deutschen Phantastikpreis nominiert. Glückwunsch!

Die Lesung findet am Samstag, 19.10.2019 um 13.00 Uhr im „Transporterraum“ statt – und die Autoren haben verraten, dass auf alle HörerInnen ein besonderes Weltraum-Extra wartet! Alle Infos zur Veranstaltung und dem BuCon-Programm gibt’s hier. Für alle BuCon-Besucher haben wir hier als Einstimmung eine Leseprobe aus „Terra“:

 

*

 

ROTE ERDE

Fünf Tage zuvor

Die staubige Oberfläche des Mars drehte sich gemächlich unter Harmonia Station hinweg und ließ die Nachtgrenze lang­sam näher wandern. Auf den ersten Blick wirkte der rötlich­gelbe Planet genauso tot wie auf den Fotos des frühen einund­zwanzigsten Jahrhunderts, als sich die ersten Pioniere darauf vorbereiteten, die Grenzen des menschlichen Siedlungsraums ein weiteres Mal ins Unbekannte zu verschieben. Für das ge­übte Auge gab es jedoch sehr wohl Unterschiede, die deutlich darauf hinwiesen, dass der kleine Bruder der Erde langsam, aber sicher aus seinem Millionen Jahre währenden Winter­schlaf erwachte. Der zarte, bläuliche Schimmer, der in der kaum sichtbaren Atmosphäre am äußersten Rand der Kugel aufgetaucht war, hatte vor weniger als zwei Jahrzehnten noch nicht existiert. Und die vereinzelten Wolkenfelder, die wirkten wie Schwärme von unendlich zerbrechlichen Spinnweben, waren nicht nur Staubstürme, wie sie seit Äonen auf dem Mars tobten. Einige von ihnen enthielten jetzt Wasser, das auf den Staub herabfiel und versickerte, verdunstete, erneut herabfiel, sich zu winzigen Rinnsalen sammelte, zu schmalen Bächen,

die Rinnen in die tote Erde gruben, das schlammige Tümpel bildete, erneut verdunstete und irgendwann seinen Weg in ei­nen der Seen fand, die jetzt im schräg einfallenden Licht der Abendsonne glänzten. Es waren nicht viele. Noch nicht. Aber es wurden von Jahr zu Jahr mehr. Jak besuchte den Mars erst seit fünf Jahren, doch auch er konnte es sehen. Jede Saison, in der er zurückkehrte, waren die winzigen Spiegel auf der Ober­fläche des Planeten ein wenig gewachsen. Nach allem, was er hörte, genug, um den größten von ihnen bereits Namen zu ge­ben. Der See Neu-Genezareth zum Beispiel war nur rund drei­ßig Kilometer lang, an den meisten Stellen weniger als zwei Meter tief und so mit genetisch modifizierten Blaualgen voll­gestopft, dass es hieß, man könne ihn zu Fuß überqueren, wie das einst schon seinem Namensgeber auf der Erde passiert sein sollte. Er lag an einem der tiefsten Punkte in den Valles Marineris, wo die Atmosphäre des erwachenden Planeten am dichtesten war und die Wolken sich am häufigsten sammeln und abregnen konnten. Doch auch in anderen Regionen tauchte das Wasser auf. Ursprünglich freigesprengt von den Fusionsbomben, die man vor rund vierzig Jahren an den Polen gezündet hatte, hatte das verdampfende Wasser Methan, Koh­lendioxid und anderes Zeug in die Luft geschleudert. Das war der Startschuss des großen Terraformingprojekts gewesen, das die vereinigten Marsmissionen großspurig »Projekt Noah« ge­nannt hatten – weil man den Planeten unter Wasser setzen und in eine neue Erde verwandeln wollte. Nur dass es nicht vierzig Tage und auch nicht vierzig Jahre dauern würde.

Jak drehte seinen Sitz und musterte das Netz aus unzähli­gen Kraternarben, die viele Areale des Planeten bedeckten wie staubige Poren. Sie waren die Spuren Noahs, die Ein­schlagkrater

der Darwinsonden, die jedes Jahr mehr Treibhauschemikalien, mehr Düngemittel und vor allem mehr von den genetisch modifizierten Bakterien und Algen über den Roten Planeten verstreuten. Samenkörner, von denen sich die ersten Vorboten des Lebens zu winzigen Inseln ausbreiteten und Bo­den wie Luft zu verändern begannen.

Keine vierzig Jahre vielleicht, sicherlich aber auch nicht die fünfhundert, die die Menschheit zu Beginn ihres Aufbruchs ins All angenommen hatte. Dreihundert schienen inzwischen wahrscheinlicher. Ein Kerl in der Messe der Station hatte ihm das letzte Mal erzählt, dass es jetzt vielleicht sogar in weniger als zweihundert zu schaffen war. Die Forschung blieb nicht stehen, und inzwischen pumpten sie dort unten seit mehr als zwei Jahrzehnten Treibhausgase in die Luft, zehntausend Mal stärker als alles, was man sich zu Beginn des Jahrtausends hätte vorstellen können. Die stetig steigende Temperatur setzte mehr und mehr Gas und Wasser aus dem Boden frei, die wiederum dafür sorgten, dass der Mars heißer und heißer wurde und seine Atmosphäre dichter und dichter. Es würde nicht mehr lange dauern, und die dort unten würden ohne Druckanzüge auf dem roten Planeten spazieren gehen kön­nen. Vorausgesetzt, sie vergaßen ihre Sauerstoffmasken nicht. Der Kohlendioxidanteil in der Luft überstieg im Moment selbst den der riesigen Industriemegastädte des amerikani­schen Ostens um ein Vielfaches. Schon seltsam eigentlich, dass das, was die Erde langsam zu Tode quälte, hier als der Schlüssel zu einer blühenden Zukunft gesehen wurde.

»He, Jakarta, schläfst du? Wie ist der Status von 17-7 auf deiner Seite?«

Die Stimme in seinem Ohr riss ihn aus den Gedanken.

»Bin da, Velasma. Jetzt hetz mich nicht.« Er warf einen Blick auf die Uhr, die im Moment die Lokalzeit der Marsstation an­zeigte. »Ihr habt euch genug Zeit gelassen. Zwanzig Minuten hinter dem Plan. Also schieb’s nicht mir in die Stiefel.«

Die Verladetechnikerin am anderen Ende der Verbindung klang sogar durch die Kopfhörer deutlich gepresst. »17-7. Jetzt, bitte.«

Jak wischte das Marspanorama vor sich mit einer bedau­ernden Geste beiseite, um den Statusdaten seines Schiffs Platz zu machen. Schlagartig war das, was soeben noch wie eine gläserne Kuppel gewirkt hatte, mit Zahlenkolonnen und leuchtenden Diagrammen gefüllt. »Alles im grünen. Klam­mern eins bis zwanzig geschlossen, Container sitzt gerade, Schott schließt dicht.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Nina?«

»Alle Systeme melden o.k.« Die rauchige Stimme seiner virtuellen Assistentin schien aus dem leeren Pilotensitz neben ihm zu kommen, ein Trick, den das Programm eigenständig perfektioniert hatte. »Kopplung Stand-by.«

»Koppeln. Danke, Nina.«

»Für dich immer.«

Als Bolzen ihre Halterungen fanden, ging ein dumpfes Dröhnen durch das Schiff.

T.S. Orgel: Terra - Illustration "Pequod"

Das Containerschiff „Pequod“

»In Ordnung, dann kommt hier 17-8«, meldete sich die Marstechnikerin wieder in Jaks Kopf. »Wie sieht’s aus, Ja­karta? Die Jungs und ich gehen nachher noch etwas trinken. Nomez hat eine Lieferung Bier von unten mit hochgebracht, und dieses Mal soll ihnen der Ansatz wirklich gelungen sein. Was meinst du? Richtiges Marsbier? Garantiert mit Alkohol und vielleicht sogar aus echtem Getreide. Und ich meine nicht Hydroponikreis!«

»Oi.« Jak schnaubte belustigt und wischte Datenkolonnen über den Schirm. Es war eigentlich nicht notwendig. Nina hatte die Daten bereits in einem Sekundenbruchteil gründlicher gesichtet, als er es je können würde. Aber das war keine Entschuldigung, seine Arbeit nicht zu machen. »Marsbier? Wenn es auch nur halb so schlecht ist wie der Selbstge­brannte, den ihr uns das letzte Mal vorgesetzt habt, habe ich Verwendung dafür. Ich hätte ein paar Meter Bodenlack abzu­beizen.«

Die Technikerin lachte. »Es ist besser, verspricht Nomez. In einem Monat wollen sie anfangen, es offiziell zu verkaufen, aber die Leute rennen ihm jetzt schon die Tür ein. Sie haben sich inzwischen sogar auf einen Namen geeinigt. Rockham­mer Red.«

»Wie einfallsreich.«

»Jakarta hat bereits eine Verabredung«, warf die Stimme der virtuellen Assistentin ein. »In dreiundfünfzig Minuten.«

»Du hast die Dame gehört, Velasma. Sie hat meinen Kalen­der im Griff. Morgen, wenn wir hier fertig sind, vielleicht.«

»Dein Pech, compañero. Du hast keine Ahnung, was du ver­passt.«

»Ich weiß ganz genau, was ich verpasse. Rajesh und Fa­zio werden endlos über Glaubensfragen diskutieren. Katalina wird irgendeinen eurer Techniker abschleppen, während alle noch Wetten darauf abschließen, wer dieses Mal das Pech ha­ben wird. Hopper säuft Nomez vermutlich zum zehnten Mal unter den Tisch, und das Ganze endet damit, dass sich ir­gendwer mit irgendwem prügelt. Und alle haben am Morgen Kopfschmerzen wie von einem anderen Stern. Tut mir leid, aber ich habe die nächsten sieben Tage ausschließlich diese

Gestalten um mich. Ich glaube, ich kann heute mal darauf verzichten.«

Velasmas Lachen vibrierte in seinen Wangenknochen. »Ziemlich genau so wird’s ablaufen, ja. Du fliegst die Route eindeutig schon zu lange, bonito. Falls du’s dir anders über­legst, wir treffen uns in Rot Fünf.«

»Alles klar. Lasst mir sicherheitshalber was von dem Bier übrig. Nur für den Fall.« Irgendwo hinter ihm rumpelte dumpf der nächste Container an das Skelett seines Lastzugs. »Vor­sichtig damit. Mach mir Dellen in meinen Trailer, und ich sorge dafür, dass du das selbst ausbeulst, und zwar da drau­ßen.«

Velasma lachte erneut und würdigte ihn keiner Antwort. Ein weiteres Rumpeln hallte durch das Schiff. »17-8 sitzt.«

Jak seufzte. Er überflog erneut die Daten, bestätigte und gab Nina den Befehl zum Ankoppeln. Dumpf hallte das Schließen der Bolzen durch das Schiff.

»Schluss für heute.« Er konnte durch den Lautsprecher hö­ren, wie sich die Technikerin drüben in der Station streckte. »Wir sehen uns nachher.«

»Nicht wenn nicht irgendetwas verdammt schiefgeht. Viel Spaß.« Jak trennte die Verbindung, öffnete die Gurte seines Sitzes und stieß sich mit den Fingerspitzen ab, um mit einem eleganten Salto über seinen Sitz ans andere Ende des Cock­pits zu schweben. »Nina, mach das Fenster wieder auf und brüh mir einen Schwarzen. Mit viel Zucker.«

Rund um ihn verschwanden die Anzeigen wieder und machten erneut der Illusion einer gläsernen Aussichtskuppel Platz, während er vor der kurzen Verbindungsröhre landete, die das Cockpit mit dem Mannschaftsquartier der Pequod ver­band. »Und mach mir ’ne Dusche heiß.« Er schälte sich aus seinem Overall, noch während er in Richtung der kleinen Kü­chenzeile schwebte. Die Nahrungsausgabe blinkte bereits. Ein silberner Beutel mit Nummerncode und der so überflüs­sigen wie obligatorischen Aufschrift »Vorsicht, kann heiß sein« wartete im Ausgabeschacht auf ihn. Er nahm einen tie­fen Schluck aus dem Vakuumverschluss und fluchte vor sich hin. Heiß und bitter, voller Teein und mit einem leichten Nachgeschmack von Schimmel und Scheiße. »Assam« stand in der Beschreibung dieses Nummerncodes. Das Zeug war so weit von einem anständigen Assam entfernt, wie es derzeit menschenmöglich war. Im Moment also rund sechzig Millio­nen Kilometer. Mars und Mond züchteten dieses Zeug genau aus dem, wonach es schmeckte. Und trotzdem war es besser als überhaupt kein Tee.

Jak trank einen weiteren Schluck und nahm den Rest mit in die Nasszelle. Er war spät dran, und seine Verabredung würde es ihm kaum verzeihen. Er war sich ziemlich sicher, dass es ein Fehler wäre, ungeduscht zu erscheinen. Oder zu müde, um aufmerksam zu sein. Wer weiß, vielleicht war heute ja sein Glückstag.

*

T.S. Orgel: Terra ∙ Roman ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 512 Seiten ∙ Preis des E-Books: € 11,99 (im Shop) ∙ Soundtrack-Playlist zum Roman ∙ Review

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.