4. Februar 2020

Keine Politik am Tisch

Wie frei sind wir eigentlich im Internet?

Lesezeit: 10 min.

Im XKCD-Comic Nr. 1357 mit dem Titel „Free Speech“ bringt Randall Munro gewohnt konzise und bissig die oft gehörten Argumente zur Meinungsfreiheit auf den Punkt: „Das Recht auf freie Meinungsäußerung bedeutet, dass die Regierung dich nicht für etwas, das du sagst, einsperren kann. Es bedeutet nicht, dass sich jeder deinen Blödsinn anhören oder dir eine Plattform dafür bieten muss. Wenn du wegen etwas, das du gesagt hast, angeschrien oder von einer Internetplattform verbannt wirst, wird dein Recht auf freie Meinungsäußerung nicht beschnitten.“

Ich stimme dem zu – größtenteils. Was wäre die Alternative? Dass die Regierung andere Leute dazu zwingt, anstößige Meinungen in ihren Internetcommunitys zuzulassen? Natürlich gehört es ebenso zum Recht auf freie Meinungsäußerung, Aussagen nicht zu veröffentlichen, denen man nicht zustimmt. „Freie Meinungsäußerung“ beinhaltet auch das Recht, nichts zu sagen, und das Recht, nicht zuzuhören.

Aber das ist nicht alles. Nur, weil uns die Regierung nicht zum Schweigen bringt, ist die Diskussion um die freie Meinungsäußerung damit nicht beendet. Stellen Sie sich zwei Restaurants vor. Das eine verbietet jedes Tischgespräch zu Themen, die das Management als „politisch“ einstuft, das andere hat diese Einschränkung nicht. Jeder würde sofort sagen, dass man sich im „Alles ist erlaubt“-Bistro freier äußern darf als im „Keine Politik am Tisch“-Diner.

Andererseits muss ja niemand im „Keine Politik am Tisch“-Diner essen gehen. Und natürlich kann man außerhalb des Restaurants über Politik sprechen: auf dem Gehsteig (wo einen der erste Zusatz der amerikanischen Verfassung schützt), zuhause, ja, sogar im „Keine Politik am Tisch“-Diner, vorausgesetzt, das Management hört gerade nicht hin.

Es kommt auch auf die weiteren Umstände an. Wenn das Essen im „Keine Politik am Tisch“-Diner das beste in der ganzen Stadt ist und alle anderen Restaurants vom Gesundheitsministerium geschlossen wurden, wird dieses Lokal sehr beliebt sein. Wäre es hingegen ein billiges Schnellrestaurant, in dem niemand essen geht, wenn man auch irgendwo anders einen Tisch bekommen kann, spielt die Hausregel keine so große Rolle.

Aber was passiert, wenn ein reicher Privatinvestor aus dem „Keine Politik am Tisch“-Diner eine Kette macht, die überall in der Stadt Fuß fasst? Zuerst kauft der Investor eine Menge Restaurants in der Stadt dazu. Danach nimmt sich die „Keine Politik am Tisch“-Kette die noch verbliebene Konkurrenz vor: Jedem noch bestehendem Lokal und jedem, das neu eröffnet, wird angeboten, an „Keine Politik am Tisch“ zu verkaufen. Die Unwilligen werden vom Markt verdrängt, etwa, indem „Keine Politik am Tisch“ ein Restaurant in derselben Straße eröffnet und die Gerichte billiger anbietet, sodass niemand mehr ins „Alles ist erlaubt“-Bistro geht. Obwohl es Menschen gibt, die beim Essen über Politik sprechen wollen, sind sie nicht bereit, mehr Geld dafür zu bezahlen. Deswegen geht das „Alles ist erlaubt“-Bistro schließlich pleite.

Dann zementiert „Keine Politik am Tisch“ seine Vormachtstellung: Nach einem Skandal um Nahrungsmittelvergiftungen in einigen Restaurants der Kette setzt sie sich erfolgreich für eine Hygieneverordnung ein, die so teuer ist, dass sich das nur die umsatzstärksten Restaurants leisten können, was alle Neueröffnungen schon in der Wiege erstickt. Mehr noch, da die örtlichen Bauern und Metzger von „Keine Politik am Tisch“ als Großabnehmer abhängig geworden sind, diktiert die Kette ihnen Vorzugspreise, zu denen sie verkaufen müssen. Das macht es potenziellen neuen Restaurantbetreibern unmöglich, Lebensmittel zu fairen Preisen zu erwerben. Schließlich wird „Keine Politik am Tisch“ zum Synonym für „Essen gehen“, als die Kette auch Schulkantinen übernimmt. Selbst an den Schulen, an denen ihr das nicht gelingt, ist das „Keine Politik am Tisch“-Diner um die Ecke das Lieblingslokal der Schüler, wo sich sie in der Mittagspause und nach Schulschluss treffen.

Bald danach erweitert „Keine Politik“ sein Imperium. Es eröffnet eine Friseurkette, startet ein Taxiunternehmen, kurz: es dringt in all die Lebensbereiche ein, in denen zwei oder mehr Menschen miteinander sprechen würden. All diesen Tochterunternehmen ist der Slogan „Keine Politik“ gemein. Jeder, der trotzdem über Politik spricht, wird hinausgeworfen. Dabei findet keine Zensur seitens der Regierung statt, und man kann nach wie vor auf dem Bürgersteig, in Privatclubs oder zu Hause über alles sprechen. Aber an bestimmten öffentlich zugänglichen Orten wie Restaurants sind Gespräche über Politik jetzt verboten. Ohne ein Einschreiten der Politik hätten wir damit eine Stadt, in der jeder das Recht auf freie Meinungsäußerung hat, wo aber die Möglichkeit, dieses Recht auch auszuüben, massiv eingeschränkt ist.

Die meisten unserer Gespräche über Politik finden nicht im Restaurant, sondern im Internet statt – und da ist es tatsächlich so wie im Beispiel vom „Keine Politik am Tisch“-Diner: Das Internet wird von einer Handvoll von Firmen beherrscht. Die Plattformen, die diese Firmen anbieten (selbst die, die sich zu Beginn der freien Meinungsäußerung verschrieben haben), hatten von Anfang an Hausregeln, die vorschreiben, was man sagen darf und was nicht. Diese Hausregeln sind im Laufe der Zeit immer mehr angewachsen und immer detaillierter geworden, sodass inzwischen alles, was nicht explizit erlaubt ist, automatisch verboten ist.

Die Komplexität dieser Regelungen und die Dominanz der Plattformen, die sie geschaffen haben, sind eng miteinander verknüpft. Tech-Giganten wie Facebook und Google sind schließlich nicht nur einfach nur dadurch gewachsen, dass sie mehr User als alle anderen anlocken konnten. Sie haben kleinere, junge Unternehmen aufgekauft und mit ihren größten Rivalen fusioniert. Jetzt sind sie Monopole.

Sie haben betrogen, genau wie das „Keine Politik am Tisch“-Diner. Wer wissen will, wie sich dessen Aufstieg in der realen Welt abgespielt haben könnte, braucht sich nur Facebook anschauen. Facebook hat keine User, sondern Geiseln. 2018 wurde Facebook vom größten User-Exodus in der Geschichte des Unternehmens erschüttert: In Amerika verließen fünfzehn Millionen Menschen zwischen dreizehn und vierunddreißig Jahren die Onlineplattform. Der Markt reguliert sich selbst, könnte man sagen. Aber Moment! Die Mehrzahl der User, die Facebook den Rücken gekehrt haben, haben sich auf Instagram angemeldet. Das gehört seit 2012 zu Facebook. Zuckerberg und Co. haben die jungen User, die Facebook den Rücken gekehrt haben, nie verloren.

Wer sich auch nur ein bisschen mit dem Kartellrecht auskennt, wird sich nun fragen: Ist das nicht illegal? Ja, ist es! Die Taktiken, mit denen sich die Tech-Giganten ihre Vorherrschaft sichern, verstoßen so offensichtlich gegen das US-amerikanische Kartellrecht, dass es eigentlich Strafen, Anklagen, Zerschlagungen und Schlimmeres hätte hageln müssen.

Nehmen Sie zum Beispiel Google, eine Firma, die in ihrer gesamten Geschichte anderthalb gute Produkte entwickelt hat: eine ausgezeichnete Suchmaschine und einen ziemlich guten Hotmail-Abklatsch. Dass das Unternehmen so groß geworden ist, liegt nicht an dem, was es produziert, sondern an den vielen Fusionen und Übernahmen. Wie konnte Google damit durchkommen, nachdem nur zehn Jahre zuvor Microsoft fast ein Jahrzehnt lang Probleme mit dem Kartellrecht hatte?

Seit der Regierungszeit Ronald Reagans haben große Unternehmen und ihre Förderer in der US-Regierung das Kartellrecht beständig nach den Vorstellungen des in Ungnade gefallenen Wirtschaftswissenschaftler Robert Bork „reformiert“ (das war der Typ, der wegen seiner Verstrickungen in Nixons Verbrechen keinen Sitz im Supreme Court bekam). Bork argumentiert, dass die Regierung nur dann gegen Kartelle vorgehen sollte, wenn nachgewiesen werden kann, dass sie den „Konsumenten Schaden zufügen“, etwa in Form von Preiserhöhungen. Das ist lächerlich. Aber Borks Doktrin ist leider im politischen Denken in den USA inzwischen vorherrschend. Deswegen durfte das „Keine Politik am Tisch“-Diner vollkommen legal all seine Rivalen aufkaufen und seine Marktstärke dazu nutzen, andere Restaurants in den Bankrott zu treiben. Solange „Keine Politik am Tisch“ hinterher nicht die Preise erhöht, kann das Kartellamt nichts dagegen tun. Wenn „Keine Politik am Tisch“ das Geld seiner Investoren außerdem noch dazu benutzt, seine Gerichte zu subventionieren, sodass sie günstiger angeboten werden können als bei der Konkurrenz, umso besser.

„Ich bin so alt, dass ich mich noch an eine Zeit erinnern kann, in der das Internet aus mehr als fünf Webseiten bestand, die nicht nur Screenshots von Inhalten der anderen vier Seiten gepostet haben“, schreibt der Programmierer Tom Eastman auf Twitter. Dafür zu sorgen, dass das Internet nur aus fünf Webseiten besteht, ist ein ziemlich schmutziges Geschäft. Diese Konzentration von Marktmacht bedeutet auch, dass eine Handvoll CEOs eine enorme Macht über unser Liebes-, Familien- und Arbeitsleben, unsere politischen Ansichten und unsere Bildung haben. Diese Führungskräfte sind alles andere als perfekt. Sie gehören der ganz normalen Mittelschicht an und sind nicht besser oder schlechter qualifiziert, die Onlineaktivitäten von Millionen von Menschen zu regulieren, als Sie oder ich.

Deswegen werden die großen Technikfirmen ständig von Skandalen erschüttert, und wenn das passiert, schütteln Richter und Politiker ihre Fäuste gegen die Unternehmen. Manchmal lassen sie ihren Worten auch Taten folgen. 2019 setzte die EU die Datenschutzgrundverordnung und die Strategien zur Terrorismusbekämpfungen durch, die die großen Technikunternehmen dazu verpflichten, Filtertechnologien im Wert von Millionen von Euros zu installieren, die angeblich alles herausfiltern sollen, was gegen diese Verordnungen verstößt. (Achtung, Spoiler: Die Filter funktionieren nicht.)

Die Regierungen müssen also das Recht auf freie Meinungsäußerungen auf Online-Plattformen nicht selbst einschränken. Sie lassen das die CEOs der Tech-Giganten machen. Und die machen gute Miene zum bösen Spiel. Sie erlassen Richtlinien, die ein bestimmtes Verhalten verbieten und ein anderes vorschreiben, und diese Richtlinien werden im Laufe der Zeit immer weiter verfeinert. Und dadurch immer komplexer.

Komplexität ist der natürliche Feind der Sicherheit. „Erlaube alles, was bei all unseren zwei Komma fünf Milliarden Usern sozial akzeptiert ist“, aber gleichzeitig „Erlaube nichts, was bei all unseren zwei Komma fünf Milliarden Usern sozial nicht zulässig ist“ und obendrein „Erlaube nichts, was gegen Gesetze gegen Terrorismus, Verleumdung, Belästigung und Blasphemie, die in jedem einzelnen der einhundertfünfzig Länder, in denen wir operieren, verstößt“ ergibt keine sinnvolle Regelung. Das ist, als würde man alle Bücher über Benimmregeln und Etikette aus aller Herren Länder zu einem einzigen Standardwerk zusammenfassen wollen. Das lose Gerüst an Regeln, das dabei herauskommt, wird niemanden von irgendwas abhalten. Ein System voller Schlupflöcher und Ausnahmen bietet den Menschen, die es systematisch auf Schwachstellen überprüfen, immer einen Angriffspunkt. Die Grenzen zwischen gutem und schlechtem Verhalten sind notwendigerweise arbiträr: Wenn man eine Regel gegen „Belästigung“ erlässt, muss man eine Schwelle definieren, an der das Verhalten von „unangenehm“ zu „belästigend“ wird. Mit ausreichend Zeit kann jeder eine Liste von Wörtern, Phrasen und Aktivitäten erstellen, die fast belästigend sind, und diese benutzen. Und professionelle Trolle – die angeblichen „Marketingfirmen“ – haben alle Zeit der Welt, zu wahren Experten für Facebooks Regelflickwerk zu werden. Sie wissen genau, wie weit sie gehen können, ehe sie gegen eine Richtlinie verstoßen, und sie wissen auch, wie sie ihre Gegner so provozieren, dass diese gegen die Richtlinien verstoßen und blockiert werden.

Obwohl die meisten Regierungen keine Gesetze erlassen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken, wird es doch so stark unterdrückt wie selten zuvor. Als der Stadtrat zugelassen hat, dass das „Keine Politik am Tisch“-Diner alle Restaurants übernimmt, obwohl es in seiner Macht gelegen hätte, die Kette aufzuhalten, hätte er auch gleich eine Verordnung erlassen können, die „Gespräche über Politik in Etablissements, in denen gegessen wird“ verbietet. Allerdings hätte sich der Stadtrat damit eine Klage eingefangen, weil er das Recht auf freie Meinungsäußerung beschneidet.

Die Regierungen dieser Welt wollten sicherlich keine schlechten Regeln über Meinungsäußerungen im Internet. Anstatt die Plattformbetreiber in die Pflicht zu nehmen, sollten wir uns lieber das Internet an sich vorknöpfen. Ein besseres Internet ist eines, das Vielfalt und Selbstbestimmung würdigt, und das den Benutzer entscheiden lässt, wie er oder sie die vorhandene Technik nutzen möchte. Das zu erreichen wird ein langer Prozess – aber wie das geht, wissen wir schon lange: Wir müssen Fusionen, die Monopole entstehen lassen, verbieten, sodass die großen Unternehmen ihre Rivalen nicht mehr schlucken oder kleinere Unternehmen nicht mehr einfach so aufkaufen können. Durch das Schließen von Schlupflöchern in den Steuergesetzen könnten wir die großen Tech-Giganten zerschlagen. Wir müssen Gesetze erlassen, die es Firmen erlauben, ihre Dienste über eine Onlineplattform zu verkaufen oder eine Onlineplattform zu sein – aber nicht beides zugleich. Wir brauchen mehr Transparenz, welche unserer Daten gesammelt und wie sie ausgewertet werden. Die Netzneutralität muss wieder eingeführt werden. Den Benutzern muss das „Hacken“ der eigenen Geräte gestattet sein: Wir sollten entscheiden, wer unsere Smartphones repariert, welche Apps darauf laufen und welche Daten mit wem geteilt werden und welche nicht. Und wenn wir schon dabei sind, sollten wir auch gleich das Abhören von Telefongesprächen und das Abfangen von Textnachrichten ohne Haftbefehl verbieten.

Als der Staat Google, Facebook & Co. erlaubt hat, das fast-exklusive Königreich einer kleinen Zahl von CEOs zu werden, was die freie Meinungsäußerung betrifft – von allen anderen Lebensbereichen, die von diesen Tech-Giganten beherrscht werden, ganz zu schweigen –, hat er zugelassen, dass diese Firmen jetzt die Gesetze machen, nach denen wir leben. Doch wer im Angesicht eines Unrechts nichts dagegen tut, macht sich mitschuldig.

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Sein Roman „Walkaway“ ist im Shop erhältlich. Zuletzt erschien bei Heyne seine Novelle „Wie man einen Toaster überlistet“ (im Shop).

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