14. Oktober 2015 4 Likes 1

„Faschistische Elemente können in jeder Gesellschaft wachsen.“

Im Gespräch mit Jo Walton (Der Tag der Lerche, In einer anderen Welt)

Lesezeit: 9 min.

Jo Walton wurde 1964 im walisischen Aberdare geboren und lebte einige Jahre in England, ehe sie nach Kanada übersiedelte. 2003 gewann sie mit ihrem viktorianischen Drachen-Gesellschaftsroman „Clan der Klauen“ erstmals den World Fantasy Award. 2008 veröffentlichte sie den brillanten Alternativwelt-Krimi „Die Stunde der Rotkehlchen“, dem die Fortsetzungen „Der Tag der Lerche“ und „Das Jahr des Falken“ folgten (auf Deutsch sind bisher die ersten beiden Teile bei Golkonda erschienen, Band drei ist jedoch bereits mit Cover angekündigt). Im Mittelpunkt der Trilogie steht Scotland-Yard-Inspector Carmichael, der in einem alternativen England lebt, das 1941 einen Frieden mit Hitler und dem Dritten Reich geschlossen hat – seither erblühen Rassismus und Faschismus auf der Insel. Zu Waltons weiteren Werken gehören die mit dem Hugo Award, dem Nebula Award, dem British Fantasy Award und dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnete Genre-Hommage „In einer anderen Welt“, aber auch Titel wie „Lifelode“, „The Just City“, „The Philosopher Kings“ und „My Real Children“. In „What Makes This Book So Great“ berichtete die leidenschaftliche Vielleserin und Mehrfachleserin zudem über ihre abermalige Lektüre fantastischer Bücher. Jo Waltons Homepage findet sich hier, und hier geht es zu ihrem Blog. Im Interview spricht sie über Alternativwelt-Geschichte und -Geschichten, Fremdenfeindlichkeit, längere Serien, gemütliche Krimis mit Fünfuhrtee-Leichen und anderes.

Hallo Jo. Aufgrund deiner Bücher „In einer anderen Welt“ und „What Makes This Book So Great“ wissen wir viel über deine liebsten Science-Fiction-Bücher. Würdest du uns trotzdem noch einmal die Alternativwelt-Werke verraten, die den größten Impact auf dich hatten?

Eines der ersten SF-Bücher, das ich bewusst gelesen habe (weil ich in alphabetischer Reihenfolge las), war Poul Andersons „Die Chroniken der Zeitpatrouille“ (im Shop). Das ist ein Buch über einen Kerl, der von einer Organisation Zeitreisender rekrutiert wird, um die Zeitlinien in Ordnung zu halten und alle Probleme zu lösen. Wenn ihm das nicht gelingt, gerät die Geschichte auf Abwege – und wenn die Geschichte auf Abwege gerät, müssen sie herausfinden, wo das passierte, und in der Zeit zurückgehen und sie just dort reparieren. In diesem Buch begegnete ich zum ersten Mal dem Konzept der Alternativwelt-Geschichte, und es hat mich schwer begeistert. Da gibt’s eine Welt, in der die Römer gegen Karthago verloren haben.

Die andere Alternativwelt-Geschichte, die eine große Wirkung auf mich hatte, war L. Sprague de Camps Roman „Vorgriff auf die Vergangenheit“, worin sich ein Kerl von 1941 im Rom des sechsten Jahrhunderts wiederfindet und beschließt, sich dort einzurichten und die Dinge damals in Ordnung zu bringen. Ich weiß nicht, wie oft ich das als Teenager gelesen habe. Es hat sich mir definitiv in mein Gedächtnis eingeprägt.

Manche Leute können über Geschichtliches lesen und denken „Oh, das ist nett“. Ich konnte das noch nie. Meine Reaktion ist immer: „Aber was, wenn es nicht auf diese Art passiert wäre? Was wäre, wenn …?“ Ich sehe niemals ein Stück Geschichte, ohne damit herumspielen und etwas komplett anders daraus machen zu wollen.

Philip K. Dick, Norman Spinrad, Robert Harris, deine Carmichael-Trilogie – viele der besten Alternativwelt-Romane spielen mit dem Zweiten Weltkrieg und Hitler. Was ist an dieser Ära so faszinierend und so anziehend für alternative Szenarien?

Es ist der große, sichtbare Angelpunkt der jüngeren Geschichte, und wenn man über Wendepunkte nachdenkt, ist es ein ziemlich offensichtlicher. Der Zweite Weltkrieg hat diesen klaren Entwicklungsverlauf, demnach Hitler am gewinnen war, und dann drehte sich das Blatt und er verlor. Oberflächlich betrachtet scheint es ganz leicht, das dahingehend zu verändern, als hätte er einfach gewonnen. Hätten die Japaner die Vereinigten Staaten nicht angegriffen und in den Krieg gezwungen, hätte Hitler tatsächlich niemals besiegt werden können. Die Ereignisse in meinen Carmichael-Büchern sind sogar noch eine ganze Ecke plausibler als das, was wirklich passiert ist – in der Wirklichkeit harrte England 1940 und 1941 aus, während es ohne die geringste Chance auf den Sieg in Stücke gebombt wurde. Jeder bei Verstand hätte an diesem Punkt Frieden geschlossen. Hitler konnte nicht glauben, dass die Briten zu dickköpfig waren, um die Realität anzuerkennen. Der kompromisshafte „Wir behalten, was wir haben, und hören auf zu kämpfen“-Frieden, den Hitler Churchill fortwährend anbot, ist genau das, was in meinen Büchern geschieht.

Manche Teile der Geschichte scheinen unvermeidlicher als andere. Einige erwecken den Eindruck, dass selbst nach einer Veränderung einhundert Jahre später alles genauso wäre. Andere erscheinen wie Kipppunkte, die alles verändern. Der Zweite Weltkrieg ist wirklich ein Wendepunkt. Von denen werden Autoren naturgemäß angezogen.

Außerdem ist es ein Problem, über geschichtliche Ereignisse zu schreiben, die niemand kennt, da man nicht voraussetzen kann, dass der Leser es in so einem Fall versteht. Allerdings dachte ich auch, dass jeder das Datum von Pearl Harbor kennt, dem „Tag der Ehrlosigkeit“ am 6. Dezember 1941. Doch viele Amerikaner scheinen es vergessen zu haben, und das, obwohl ich im Buch klar sage, dass England im Mai 1941 zur Zeit der Heß-Mission Frieden schließt.

Alternativwelt, Cyberpunk – wieso nutzen viele der eher geerdeten SF-Subgenres als Grundlage eine Krimi-Handlung?

In der Science-Fiction kann man jede Art von Geschichte erzählen. Die Form eines Krimis – ob ein gemütliches Cozy Mystery im Stile von Agatha Christie oder ein Thriller oder Noir – ist etwas, das man nutzen kann, um eine andere Welt und einen anderen Hintergrund auszuleuchten, und dennoch ist die Fasson der Story dem Leser vertraut. Man kann einem Leser nicht zu viele seltsame Dinge auf einmal zumuten und muss ihn behutsam in die Welt einführen. Ihn denken zu lassen, dass er weiß, was man tut, indem man ihm eine bekannte Story-Form vorsetzt, hilft. Und die Geschichte einer Ermittlung lässt einen die Welt auf eine spannende Weise zeigen, denn alles dreht sich darum, Dinge herauszufinden.

Kannst du uns ein wenig über die Ursprünge der Trilogie um Inspector Carmichael erzählen?

Viele Leute behandeln die ganze Nazi-Sache, als wäre sie etwas eindeutig Deutsches und ein einmaliges historisches Ereignis, das nur in dieser Zeit und an diesem Ort passieren konnte. Das Problem ist, dass das nicht nur ausgemachter Unsinn, sondern auch gefährlich ist – es bedeutet, dass man keine Lehren aus der Geschichte zieht und faschistische Elemente in jeder Gesellschaft wachsen können, denn „wenn es keine Hakenkreuz-Fahne schwenkt, kann es kein Nazi sein“.

Ich wollte eine „Es kann hier passieren“-Geschichte schreiben, um diese spießige Selbstgefälligkeit aufzurütteln, der man in englischsprachigen Ländern begegnet: Weil wir im Zweiten Weltkrieg auf der richtigen Seite gekämpft haben, macht uns das (letztendlich) zu den Guten. Ähm, nein. Es machte unsere Vorfahren zu den Guten, in jener Zeit und in jenem Konflikt, doch darauf können wir uns nicht ausruhen. Sobald wir selbst aggressive Kriege beginnen und damit anfangen, Leute in Lager wie Guantanamo zu sperren, werden wir zu den Bösen.

Ferner hatte ich einige klassische Cozy Mysteries gelesen und mich gewundert, dass Bücher, in denen es eigentlich um Mord und einen gewaltsamen Tod geht, als cozy, also als gemütlich und behaglich, bezeichnet werden können. Sie alle drehen sich um Fünfuhrtee und Crumpets in der Bibliothek, und gleichzeitig drehen sie sich auch um eine Leiche, die in genau diese Umgebung eindringt. Es ist ein äußerst beschränktes Eindringen, und doch steuert es die gesamte Handlung. Und am Ende ist die Ordnung wiederhergestellt. Sie verwenden allerlei interessante Techniken, um den Konflikt darin zu vermeiden, und mir wurde klar, dass ich dasselbe tun könnte, um über Faschismus zu sprechen.

Wenn man über reale Geschichte spricht, kann man die Menschen nicht wirklich erschüttern, weil sie wissen, was passiert ist und daran gewöhnt sind. Mit einer Alternativwelt-Geschichte, wo sie es nicht wissen, kann man die Menschen mit realen Dingen konfrontieren, und sie können wieder erschüttert werden.

Wieso sind Rassismus und Faschismus in unserer heutigen Welt nach wie vor so große Themen?

Ich denke, das liegt daran, dass Fremdenfeindlichkeit natürlich ist – viele Menschen reagieren auf Menschen, die anders sind, mit Angst, und für Leute, die Macht wollen, ist es leicht, mit Ängsten zu spielen. Es bedarf Arbeit, Fremdenfeindlichkeit zu überwinden, und es gibt lediglich wenig Anreiz für uns, diese Arbeit zu machen, und zugleich viele Ermutigungen, Menschen, die anders sind, zu dämonisieren.

Eines der Themen, die ich in den Carmichael-Büchern angehen wollte, ist die Frage, wieso gute Menschen böse Dinge tun. Es sagt sich leicht, dass böse Menschen böse Dinge tun. Böse Menschen sind Rassisten. Doch Rassismus gibt es in der gesamten Gesellschaft, und er wird oft so weitergegeben, dass Kinder gar nicht merken, ihn zu lernen, und Eltern gar nicht merken, dass sie ihn lehren. Wir können nicht „Es ist böse“ und „Du bist böse“ sagen. Wir müssen es in uns selbst betrachten, uns fragen, „Okay, wieso empfinde ich das?“, und dann die Arbeit machen und es überwinden.

„Der Tag der Lerche“ spielt im Theater-Milieu. Wir wissen, dass du Bücher liebst – wie sieht es mit dem Theater jenseits von Shakespeare aus?

Ja, ich liebe Live-Theater. Als ich 2014 auf dem Worldcon in England war, sahen wir sieben Stücke in fünf Tagen. Shakespeare habe ich wirklich gern, aber mir gefallen auch alle anderen Stücke, von Stoppard bis Euripides.

Warum enden Inspector Carmichaels Fälle mit Band drei, anstatt eine dieser langen, erfolgreichen Krimi-Serien zu werden?

Ich hatte genug. Es fängt damit an, dass man über Faschismus schreiben möchte, und am Ende hat man Faschisten dermaßen satt, das glaubst du gar nicht.

Genau genommen werde ich allem nach drei Büchern überdrüssig. Dir wird aufgefallen sein, dass sich all meine Bücher stark voneinander unterscheiden. Das ist der Grund dafür. Ich weiß, dass manche Leute glücklich damit sind, Endlos-Serien zu schreiben, doch ich bin stets am glücklichsten, wenn ich etwas komplett Neues beginnen kann. Ich schrieb Sekundärwelt-Fantasy, Fantastik in dieser Welt sowie verschiedene Sorten Alternativwelt-Geschichten. Meine neusten Bücher handeln von Göttern und Zeitreisenden, die Platos Republik errichten.

Du hast den Nebula, den Hugo und den World Fantasy Award gewonnen, die großen Genre-Literaturpreise. Für „Der Tag der Lerche“ bekamst du von der Libertarian Futurist Society obendrein den Prometheus Award für liberale Science-Fiction verliehen. Wie besonders und wichtig ist das für dich?

Nun, ich bin kein Liberalist – nicht mal im Entferntesten. Insofern ist es etwas ganz Besonderes, dass sie mir den Preis für ein unbequemes Buch verliehen haben, anstatt ihn einem bequemeren zu geben, das jemand aus ihrer Mitte geschrieben hat. Das spricht sehr für sie und ihre Verpflichtung der Freiheit gegenüber.

Die anderen großen Preise zu gewinnen war ebenfalls wundervoll – es ist so bestätigend, zu wissen, dass die Leute deine Arbeit wahrhaftig mögen. Auch der Kurd-Laßwitz-Preis hat mich sehr begeistert, denn es ist großartig, zu sehen, dass sogar Menschen in anderen Ländern deine Arbeit mögen. Zumal es ein äußerst prestigeträchtiger Preis ist.

Deine Carmichael-Romane sind ausgesprochen subtil und zeigen mehr, als dass sie erzählen – was sie umso großartiger macht. Setzt Mainstream-SF zu oft auf Action und Effekte?

Meiner Meinung nach verspüren wir zu oft das Bedürfnis nach einem actionreichen Plot, während wir uns in Wahrheit eigentlich sorgen und von der Story betroffen sein wollen. Darüber habe ich einige Zeit nachgedacht – darüber, welche Geschichten interessant sind. Häufig ermüden mich Action-Plots, weil sie so vorhersehbar sind. „O nein, es bleiben zehn Minuten zum Entschärfen der Bombe, der Held wird sterben …“ Nun, man weiß, dass er nicht stirbt, weil man das Buch erst zur Hälfe durch hat, das Risiko ist also komplett künstlich. Doch wenn der Held Gefahr läuft, sich schrecklich zu blamieren, dann kann ich es vor Spannung womöglich kaum aushalten, denn das kann tatsächlich passieren und ist wesentlich interessanter.

Helfen erfolgreiche Filme wie Guardians of the Galaxy oder Star Wars trotzdem dem gesamten SF-Genre?

Sie machen in meinen Augen keinen Unterschied. SF-Blockbuster sind Mainstream, aber SF-Romane werden hauptsächlich von SF-Lesern gelesen. Meine Bücher zum Beispiel haben rein gar nichts mit solchen Filmen gemein. Man kann nicht sagen „Wenn du Guardians of the Galaxy magst, magst du ‚Der Tag der Lerche’“. Das ist irrelevant. Nicht jedes Buch ist für jeden.

Gibt es noch etwas, das du deinen deutschen Lesern sagen möchtest?

Ich bin froh, dass ihr meine Bücher mögt, und hoffe, dass ihr euch nicht daran stört, dass sie nicht alle gleich sind und ich keine langen Serien schreibe.

Deine Bücher sind toll, wie sie sind. Danke für das Gespräch!

Autorenfoto: Ada Palmer

Kommentare

Bild des Benutzers Elisabeth Bösl

Also, ich habe Carmichael noch lange nicht satt ... Danke für dieses schöne Interview!

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