26. Januar 2016 1 Likes

Das Auto aus dem Blumentopf

Ein ganz persönlicher Testbericht aus der nahen Zukunft

Lesezeit: 7 min.

Heute ist es endlich so weit: Unser Auto darf zum ersten Mal alleine raus! Wir sind ziemlich aufgeregt und fragen uns, ob es wirklich schon ausgereift genug ist. Aber das Bioverkehrsministerium gibt eindeutig vor, dass zwölf Monate Entwicklungszeit völlig ausreichen. Mannomann, seufzt meine Frau, das Jahr ist ganz schön schnell vergangen …

Letzten Sommer holten wir uns den Autosamen am örtlichen Biotech-Gemüsemarkt. Ein roter Viersitzer solle es werden, sagten wir dem Händler (er trug zu seinem Nadelstreifanzug einen lustigen Strohhut). Also holte er aus einer Reihe tiefgekühlter Proben ein kleines Glas hervor, das einen fingernagelgroßen, ovalen Samen enthielt. Wir nickten und er fragte uns, ob wir die zehn Euro bar zahlen oder mit einer Blutabnahme begleichen möchten. Wir entschieden uns fürs Barzahlen (abgebucht wurde über einen Iris-Scan), denn Blutspenden ist zwar wichtig, aber man weiß nie so recht, was die mit der DNS und deinen Zellen so alles anstellen.

Daheim setzten wir den Samen, wie in der Gebrauchsanleitung beschrieben, in einen quadratmetergroßen Topf mit Blumenerde ein und düngten diese mit Metallpartikeln und einem Schuss synthetischer Bakterien. Das Autozimmer hatten wir natürlich schon längst eingerichtet: Ein weiches Bettchen stand bereit, etwas Spielzeug zum interaktiven Lernen – und eine Menge Steckdosen, falls das Kleine in der Nacht Hunger bekommen sollte. Die meisten Leute denken ja überhaupt nicht nach, was so ein kleines Bioauto zum Aufbau seines neuronalen Netzwerks braucht, und wundern sich dann, dass sie ihm alles selbst beibringen müssen.

Schon am nächsten Tag keimte der Samen, und innerhalb einer Woche war aus dem Topf ein meterhoher grüner Stamm geschossen. Indem wir regelmäßig Wasser zufügten, hatte die Pflanze alles, was sie zum Wachsen und Knospenbilden brauchte: Die Synthobakterien wandelten den Humus und die Flüssigkeit in flexiblen Kunststoff um, während die den Eiweißmolekülen einprogrammierten Vorgaben für einen perfekten Wuchs sorgten.

Nach zwei Wochen hatte sich die Fruchtkapsel gebildet: Auf ihrer schon fast wie ein Auto aussehenden halbtransparenten Hülle prangte das Logo der Autofirma, und wir freuten uns, dass alles so gut klappte. Tag für Tag wuchs die Frucht heran, bis sie etwa so groß wie eine Teekanne war – dann öffnete sie sich und unser Auto fiel heraus: kirschrot und natürlich noch winzig, aber bereits aerodynamisch geformt und schon fast mit allen Extras.

Wir hielten uns erfreut an den Händen und beobachteten, wie es sich zuerst ein paar Mal im Kreis drehte, um das Zimmer zu scannen, und sein integrierter Biochip anschließend die Testprogramme ablaufen ließ: vor-, zurück- und seitwärtsfahren; Hindernisse erkennen und ihnen ausweichen, Rundum-Kommunikation mittels WLAN und High-Definition-GPS, sowie Energiequellen suchen und deren Positionen speichern. Danach drehte es sich zu uns und seine Biolumineszenz-Augen leuchteten auf, als würde es uns freundlich zuzwinkern. „Hallo Mami und Papi“, piepste es. „Ich freue mich, dass ich bei euch sein darf, und werde euch ein gutes Auto sein!“ Was soll ich sagen, meine Frau war hingerissen.

Die nächsten zwei Wochen hatte ich mir extra frei genommen, denn es ist besonders wichtig, in dieser Zeit eine innige persönliche Bindung zum heranwachsenden Auto aufzubauen. Stundenlang ging ich mit ihm spazieren und machte es mit den Smart Streets in unserer Umgebung vertraut: In deren Kunststoffbelag sind Sensoren eingelagert, die jedes Fahrzeug identifizieren und dessen Navigation, Geschwindigkeit und Insassenverhalten überwachen; entlang der Leitschienen befinden sich alle paar Meter Energiesender, die mittels Funkstrom die Autobatterie während der Fahrt auftanken. Für uns ist das klar, aber so ein neugeborenes Auto muss das erst kennenlernen. Zwischendurch blieben wir öfters stehen, damit es mit gleichaltrigen Autos spielen und Daten austauschen konnte. Man sieht dabei leider immer wieder, dass einige Besitzer ihrem Auto keine ausreichende emotionale Prägung gegeben haben, wodurch sich dieses oft zu weit von ihnen entfernt, orientierungslos herumsucht oder sogar mit Fremden mitkommen will. Furchtbar! Heutzutage kann offenbar wirklich jeder Autobesitzer werden.

Daheim fuhr unser Auto – wir hatten es mittlerweile Tweety getauft – zuerst zu jedem Familienmitglied (auch zum Roboterstaubsauger und der Biotech-Katze), um kurz zu prüfen, ob noch alle da waren und seinen Speicherdaten entsprachen. Dann fuhr es meist zu meiner Frau, blinkte zwei Mal und piepste: „Mami, bitte streichle mich!“ Oh, ist es nicht süß, seufzte sie und hob es hoch – obwohl es schon wieder ein Stück gewachsen und seine Karosserie bereits zwanzig Kilo schwer war. Am liebsten lagen die beiden auf der Couch, und sie streichelte seine kirschrote, mitwachsende Flex-Haut, während es am Fläschchen nuckelte, um seine Batterien mit Kalzium und Eiweiß zu versorgen. Dann sahen sie sich meist Filme am Armbanduhrprojektor an. Besonders gern mochte es alte Actionkracher mit Autoverfolgungsjagden – etwas, das heute in der entwickelten Welt nirgends mehr vorkommt, weil ja jeder Wagen von der Smart Street kontrolliert wird; man könnte natürlich unerlaubt abbiegen und über die unbebauten Trockengebiete fahren, aber wer will das schon?!

Das Jahr verlief eigentlich sehr harmonisch, bis auf eine kurze Pubertätsphase unseres Autos: Da wollte Tweety ein paar Wochen lang ständig raus zu seinen Freunden, auch über Nacht, damit sie in irgendwelchen illegalen Werkstätten abhängen und weiß-Gott-was miteinander treiben konnten. Das verbaten wir ihm natürlich, also war es sauer auf uns und piepste nicht mehr freundlich, sondern dröhnte und röhrte, als besäße es einen prähistorischen Benzinmotor (hatte es wohl aus diesen Actionfilmen gelernt). Dann wieder wollte es nicht aus seinem Zimmer raus kommen und verbrachte Stunden im Internet, reagierte aber auf keine Nachricht von uns. Schließlich wandten wir uns etwas entnervt an die Herstellerfirma, und sie konnte uns zum Glück ein Software-Update vermitteln (dass es mehr als tausend Euro kostete, ließ mich vermuten, sie machten das absichtlich: spottbilliger Kaufpreis, teure Upgrades). Wir spielten es wie empfohlen in unser Hausnetzwerk ein und warteten, dass es sich virusartig ins Betriebssystem von Tweety übertrug. Danach war alles wieder in Ordnung: Nach ein paar Minuten öffnete sich die Autozimmertür, und unser Kleines kam heraus gerollt, blinkte uns freundlich an und sagte: „Tut mir leid, dass ich so ein Arschloch war.“ Meine Frau zuckte zusammen; offenbar hatte Tweety beim Internetsurfen auch Kraftausdrücke eingelagert. Aber was soll’s: Wir hatten unser Familienauto wieder!

Und heute fährt es erstmals selbständig auf der Straße! Unsere Verwandten und auch die Nachbarn sind gekommen, um den großen Moment zu erleben. „Jetzt beginnt für Tweety der Ernst des Lebens“, sage ich feierlich und wir klatschen, als unser Schätzchen autonom in die Parklücke vorm Haus einbiegt und zwei Türen öffnet. Da Tweety ja unsere Körpermaße kennt, hat es nicht nur die einzelnen Türgrößen flexibel an uns angepasst, sondern verstellt für uns auch die Biokarbon-Sicherheitssitze, damit sie uns sauber aufnehmen und umhüllen können. Wir winken nochmal raus, dann geht es los.

„Wohin möchtest du denn fahren, Papi?“, fragt Tweety – mittlerweile piepst es nicht mehr, sondern hat eine angenehme, auf unsere Vorlieben abgestimmte synthetische Stimme. Meine Frau wirft mir einen leicht tadelnden Blick zu, denn eigentlich hätte sie erwartet, zuerst gefragt zu werden. Also treffe ich mit ihr gemeinsam die Entscheidung: „Bring uns doch zum Zoo.“ Alles klar, meint Tweety, und schon klinkt es sich ins Leitsystem der Straße ein. Wir lehnen uns bequem zurück und schließen die Augen, während das Auto auf dem vorberechneten kürzesten Weg in Richtung Stadtgrenze fährt.

„He Tweety, altes Haus“, hören wir plötzlich eine fremde Stimme. Auf meine Frage, wer das sei, entschuldigt sich unser Auto, es habe irrtümlich die Nachrichtensprachfunktion angelassen. Das sei bloß Steve McQ, ein Bekannter aus dem Internet. „Steve wie?“, sage ich, denn diesen Namen habe ich noch nie gehört. Die Augen meiner Frau weiten sich jedoch, als wisse sie etwas. „Ach, Steve steht auch auf alte Filme“, sagt Tweety betont unschuldig. Dann schaltet es den Lautsprecher aus, wir sehen aber am Bildschirm, dass es sich offenbar weiter mit ihm unterhält. „Schalt das wieder ein“, sage ich streng. „Wir möchten auch mithören.“

Widerwillig folgt Tweety, und wir hören gerade noch, wie dieser Steve McQ sagt: „… Entfernung 256 Meter. Kollisionswunsch in sieben Sekunden.“ Jetzt begreife ich: Steve ist ebenfalls ein Biotech-Auto. Eines, das auf Verfolgungsjagden steht. Und noch bevor ich eingreifen kann, hat Tweety den Fahrstreifen verlassen und biegt von der Straße ab. „Halt“, ruft meine Frau, „fahr sofort wieder zurück.“ - „Geht nicht“, antwortet Tweety, „sonst rammt er uns gleich.“ Und da sehen wir, wie in einiger Entfernung ein seltsam verbeultes, blitzblaues Auto ebenfalls die Straße verlässt und mit irrsinniger Geschwindigkeit auf uns zu braust. „Lass uns raus“, rufe ich und will auf den Notfallschalter am Volant drücken. Doch im selben Moment verhärten sich die Biokarbon-Sicherheitssitze und ich kann die Hände nicht mehr bewegen. Ich kann den Kopf gerade noch so weit drehen, um meine Frau vorwurfsvoll anzublicken und zu knurren: „Du mit deinen alten Actionfilmen!“ Sie wimmert und sagt: „Ich kann doch nichts dafür. Das muss ein Virus oder irgendeine Schadsoftware sein, die Tweety sich im Internet eingefangen hat …“

Nun sind vier Stunden vergangen, und der Tachometer zeigt beunruhigende 299 km/h an, während Steve McQ immer noch hinter uns her jagt.

„Lass uns doch irgendwo raus, Tweety.“

„Erst wenn wir in Sicherheit sind.“

„Aber wie lange soll das denn noch dauern?“

„Bis bei einem von uns die Batterien leer sind.“

„Dann sind wir doch längst verhungert!“

„Im Handschuhfach sind Müsliriegel als Geschenk von der Herstellerfirma.“

„Warte nur, bis wir zu Hause sind, dann kriegst du ein Monat Garagenarrest!“

Aber Tweety hat die Kommunikation schon abgebrochen und düst mit uns über die Trockengebiete dahin, verfolgt von einer aggressiven Staubwolke und weit weg von irgendwelchen Wartungstechnikern oder Servicestationen. Ein Biotech-Auto mit flexiblem Gehäuse, intelligentem Neuronetzwerk, Hochsicherheitsausstattung, Sensorenkennung, Kommunikationstechnik, Sitzheizung, Klimaanlage, Surround Sound und elektrischem Fensterheber. Nur leider haben wir ihm statt Manieren die totale Autonomie beigebracht.

 

Uwe Neuhold ist Autor und bildender Künstler, der sich insbesondere mit naturwissenschaftlichen Themen befasst. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

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