23. März 2021 2 Likes

„Das Lied der Kämpferin“ von Lidia Yuknavitch

Ein Zukunftsroman über Weltuntergang, Kunst, Widerstand, Systeme und Geschlechter

Lesezeit: 2 min.

Die 1963 geborene Amerikanerin Lidia Yuknavitch (im Shop) kennt man für ihre viel beachteten Bücher genauso wie für ihren millionenfach gesehenen TED Talk „The Beauty of Being a Misfit“. Der Science-Fiction-Roman Das Lied der Kämpferin“ (im Shop), im Original „The Book of Joan“ aus dem Jahre 2017, ist das erste Buch der US-Autorin, das auf Deutsch erscheint. In der Übersetzung von Claudia Max liegt es seit März als schönes Paperback mit Klappenbroschur sowie als E-Book bei btb vor – und den Werbespruch Selection: Ausgezeichnet. Ungewöhnlich. Erstklassig kann und sollte man ernst nehmen. Tut man das nicht, dämmert einem spätestens nach den ersten paar Dutzend Seiten, dass man das besser mal getan hätte …

Im Roman ist die Erde zerstört, verpestet, geschliffen. Einige Superreiche haben sich auf der fortschrittlichen Raumstation CIEL eingerichtet, wo sie zu dekadenten, von ihrem Anführer und künstlicher Intelligenz überwachten Pseudomenschen wurden, ohne Geschlechtsorgane, ohne Haare und mit verformbarer weißer Haut, in die Geschichten gebrannt werden. Sie wurden zu Wesen voller Bedauern und fehlgeleiteter Nostalgie, die nicht lange nach ihrem fünfzigsten Geburtstag öffentlichkeitswirksam hingerichtet werden, weil sie CIEL nichts mehr bringen. Ich-Erzählerin Christine schildert uns ihre Welt über der Welt, ihre Situation, ihre Gedanken, ihre Sehnsüchte und ihren Protest auf eindringliche Weise. Gleichzeitig fährt sie über die Story-Brandings auf ihrer befremdlichen Haut und gewährt uns Einblick in die Legende von Joan, dem Wunderkind des Widerstands auf der alten Erde, mit einer ganz besonderen Verbindung zur Welt der Kindersoldaten und der Apokalypse …


Lidia Yuknavitch. Foto © Andrew Kovalev

In „Das Lied der Kämpferin“ verarbeitet Lidia Yuknavitch, übrigens eine Freundin von Chuck „Fight Club“ Palahniuk aus Portland und eine Lehrerin für kreatives Schreiben, Literaturwissenschaft und Women Studies, die mittelalterlichen Leben bzw. Mythen von Christine de Pizan sowie Jeanne d’Arc. Man muss die Philosophin und die heilige Jungfrau für die Lektüre allerdings nicht kennen, um Yuknavitchs eigenwillige und ziemlich überwältigende Zukunftsvision zu verstehen. Da gibt es andere Hürden. Denn das ganze anspruchsvolle, unangepasste Science-Fiction-Buch liest sich, als hätte Margaret Atwood ein gewohnt drastisches und schockierendes Werk über all die bigotten Systeme und die allgegenwärtige Übersexualität unserer Zeit geschrieben, allerdings mit einem Blick durch einen auf einer bizarren Raumstation mutierter Menschen installierten Zerrspiegel – und verfasst in der manchmal geradezu barocken Manier eines Michael Moorcock.

Grell retrofuturistisch verpackter Feminismus trifft auf mittelalterliche Bezüge, eine Erlösergeschichte und moderne Gender- und Gesellschaftskritik, mal mehr, mal weniger stark codiert, mal mehr, mal weniger zugänglich. Zusammen macht all dies „Das Lied der Kämpferin“ sicher zu einem der schwierigsten und verkopftesten SF-Titel des Frühjahrs, jedoch ganz bestimmt zu einem der relevantesten und trotz allem reizvollsten. Wer seine Science-Fiction aktuell, herausfordernd, rasiermesserscharf, unbequem, mit intellektuellem Ansatz und weit weg vom Szene- und Genre-Standard mag, muss sich daher dem Lied der Kämpferin stellen.

Lidia Yuknavitch: Das Lied der Kämpferin • btb, München 2021 • 348 Seiten • E-Book: 9,99 Euro (im Shop)

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