„Was ist dein Stoff?“
Einfach großartig: Jeanette Wintersons „Frankissstein. Eine Liebesgeschichte“
1816: Am Genfersee schreibt Mary Godwin einen der berühmtesten Romane der Weltgeschichte. 2018: Ry Shelley trifft auf Victor Stein – und verliebt sich Hals über Kopf. Während Mary liebt, schreibt und an die Grenzen ihrer Zeit stößt, befasst sich Ry mit Ethik und Möglichkeiten moderner Wissenschaft.
Wie bespricht man am besten einen Roman, der Hommage und Innovation zugleich ist? Der mit dem Genre spielt und Denkanstöße gibt? Der einen zum Lachen bringt und gruseln lässt? Der die Gegenwart einfängt und die Vergangenheit miteinbezieht? Sprich: Der durch und durch phantastisch ist? Vielleicht, indem man zunächst die Autorin vorstellt.
Die Britin Jeanette Winterson gewann bereits mit ihrem Debüt „Oranges Are Not the Only Fruit“ den Whitbread Prize. In ihren Werken beschäftigt sie sich mit Gendernormen und sexueller Identität, aber auch mit der Beziehung zwischen Mensch und Technik. In „Das Powerbook “ (Berlin Verlag, 2001) verband sie etwa den Cyberspace mit Ovids „Metamorphosen“ und Virginia Woolfs „Orlando“.
Angesichts der erzählerischen Wucht von „Frankissstein. Eine Liebesgeschichte“ scheint Wintersons bisherige Bibliografie nur das Vorspiel für ihr neuestes Werk gewesen zu sein, also quasi die Pflicht vor der Kür. Denn „Frankissstein“ stand nicht nur auf der Longlist des Booker Prizes 2019 (den dann u. a. Margaret Atwoods „Die Zeuginnen“ gewann), sondern vereint auch meisterlich alle ihre Interessen auf hohem literarischen Niveau. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität genauso wie zwischen den Zeiten. Am Ende steht die Frage im Raum, welche schöpferische Macht dem Schreiben inne wohnt – und ob die Monster, die Autor*innen schaffen, nicht irgendwann ihren Weg in unsere Welt finden.
Doch kommen wir noch einmal zum Ausgangspunkt der Geschichte, und zwar zu einer der am meisten beschriebenen und diskutieren Szenen der Literaturgeschichte. Den Sommer 1816 verbringen die junge Mary Godwin, ihre ebenfalls junge Stiefschwester Claire Clairmont, der nur etwas ältere Dichter Percy Bysshe Shelley, der damals schon berüchtigte Lebemann Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori gemeinsam in einer Villa in der Nähe des Genfersees. Um das, was sich dort abgespielt hat, spekulierten bereits die Zeitgenossen. Was als gesichert gilt: Damals entwickelte und schrieb Mary Godwin „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“.
Knapp zweihundert Jahre später begegnet eine andere Mary Shelley einem Professor Victor Stein. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Mary ist Arzt, transgender und nennt sich schon vor der teilweisen Geschlechtsumwandlung genderneutral Ry. Victor Stein ist anders als sein „fast“ Namensvetter ein charismatischer Experte für Künstliche Intelligenz – und fasziniert von Ry. Nach einer gewissen Zeit beliefert Ry Victor mit Körperteilen aus der Notaufnahme und lässt sich auf ein Experiment ein, von dem Frankenstein nicht einmal zu träumen gewagt hätte.
Winterson macht ihre beiden unterschiedlichen „Marys“ zu den Ich-Erzähler*innen dieser unterhaltsamen wie fordernden Geschichte. Die kommt nicht ohne illustre Nebenfiguren aus. Bei Mary Godwin sind das die bekannten historischen Persönlichkeiten. Für Ry hat sich die Autorin einen ebenso illustren Personenkreis ausgedacht, der zudem unsere Zeit widerspiegelt. Zu den Weggefährten wider Willen zählen der Sex-Roboter-Hersteller Ron Lord, die hartnäckige Vanity Fair-Reporterin Polly D., sowie die tief religiöse und auf (finanzielle) Vorteile bedachte BBQ-Organisatorin Claire.
Dieser Spiegeleffekt erlaubt Winterson einerseits, sich tief vor der Vorlage und ihrer Autorin zu verneigen. Andererseits ermöglichen ihr Ry und Victor, das frankenstein‘sche Dilemma von einem modernen Standpunkt aus zu betrachten. Dabei geht es allerdings nicht primär um die Frage, welche (vermeintlichen) Monster in Laboratorien entstehen und wie die Umwelt mit ihnen umgeht. Vielmehr geht es um Akzeptanz, Ethik und historische Entwicklungen, etwa beim Thema Körperpolitik. Während Mary im 19. Jahrhundert als beeindruckende, intelligente Frau an den gesellschaftlichen Grenzen und Normen ihrer Zeit zu scheitern droht, kann Ry im 21. Jahrhundert dem eigenen Körper eine Form geben, die dem Körpergefühl am nächsten kommt. Damit stößt Ry weniger an die Grenzen der modernen Wissenschaft als an den begrenzten Horizont der Mitmenschen. „Freak“ ist da noch die harmloseste aller Beleidigungen, die Rys Alltag prägen.
„Körperformen“ und „Körper formen“ sind jedoch nur zwei Aspekte von „Frankissstein“. Es geht auch um Künstliche Intelligenz, Kryonik, Robotik und um die ethischen Fragen, die wir als Kollektiv beantworten sollten, da die rasante Entwicklung in diesen Bereichen weiter anhält. Mit ihrem Roman greift Winterson somit einen hochaktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs auf. Der kommt jedoch nicht dröge und trocken daher. Im Gegenteil: „Frankissstein“ ist ein humorvoller Science Fiction-Roman. Fast jede der 400 Seiten bietet einen Moment zum Lachen oder Schmunzeln. Schwarzer Humor ist eines der Werkzeuge, mit denen Winterson ihre Leser*inne zum Nachdenken anregt. Und wer nicht gern lacht, findet auf genauso vielen Seiten mindestens ein Zitat, das gerahmt an die Wand gehört. Trefflicher als Winterson kann wohl niemand Humor und Tragik des Lebens in Worte fassen.
„Frankissstein. Eine Liebesgeschichte“ ist Science-Fiction, Romanze, Hommage und gesellschaftspolitischer Diskurs in einem. Winterson aktualisiert behutsam einen Genreklassiker, erzählt von Andersartigkeit und gibt Denkanstöße. Gekonnt vermischt sie Fiktion und Realität, sodass eine Begegnung mit Victor (Franken-)Stein möglicher erscheint als jeder andere – ein fabelhafter Roman mit starker Botschaft.
Jeanette Winterson: Frankissstein. Eine Liebesgeschichte • Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek und Michaela Grabinger • Kein & Aber, Zürich 2019 • 400 Seiten • 24,00€
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