8. August 2022

„The Sandman“ – Die Verfilmung des Unverfilmbaren

Die Netflix-Serie nach Neil Gaimans Graphic Novel macht es Neueinsteigern nicht leicht

Lesezeit: 3 min.

Ein Geständnis zu Beginn: Der Autor dieser Zeilen hat Neil Gaimans „Sandman“ nie gelesen. Ja, eine große Lücke in der popkulturellen Bildung, die in erster Linie der Länge des Epos geschuldet ist. Während ein lang versäumter Film an einem Abend gesehen, ein essentieller Roman an einem Wochenende gelesen werden kann, schrecken die gut 2000 Seiten des „Sandman“-Zyklus dann doch ein wenig ab.

Ob das nicht kennen der Vorlage ein Nachteil ist, wenn man sich nun der lange gärenden Verfilmung des als unverfilmbar geltenden „Sandman“-Zyklus widmet, darüber ließe sich diskutieren, interessant ist es jedoch durchaus, wenn man in die ersten Folgen der Netflix-Serie einsteigt – und nur Bahnhof versteht. Klar, dass die Figur des Sandman etwas mit Träumen zu tun hat, kann man sich denken, man kennt ja schließlich das Sandmännchen oder den 50er Jahre Hit „Mr. Sandman“. So beschaulich geht es in der von Gaiman selbst, David Goyer und Allan Heinberg entwickelten Adaption allerdings nicht zu, im Gegenteil.

Zu Beginn befindet sich der Sandman (ein sehr blasser Tom Sturridge, der wie ein aus der Zeit gefallener Goth aus den 80er Jahren wirkt) in Gefangenschaft, aus der er in der Gegenwart entkommt, einer Gegenwart, die allerdings seltsam unbestimmt, sowohl zeit- als auch ortlos wirkt. Ohnehin die Bilder: Bisweilen muten gerade Traumszenen an wie Cutscenes aus eher mittelmäßigen Computerspielen, voller wenig überzeugender CGI- und offensichtlichen Greenscreenaufnahmen. Ob diese wenig überzeugenden Bilder der frühen Fassung geschuldet ist, die Netflix zur Vorabsichtung zur Verfügung gestellt hat, sei dahingestellt, in den ersten Folgen überzeugt „The Sandman“ jedenfalls vor allem dann, wenn die Figuren im Mittelpunkt stehen.

Neben dem Sandman taucht da etwa Johanna Constantine (Jenna Coleman) auf, die ein Säckchen mit Traumsand vom Sandman im Besitz hat. Auch andere Besitztümer sind weit verstreut, zum Teil gar in der Hölle, aber es ist der rotleuchtende Rubin, der offenbar das wichtigste ist. Diesen benutzt eine Figur namens John Dee (David Thewlis), der sie in der bislang besten Folge namens „24 Stunden“, den Menschen das zweischneidige Geschenk der Wahrheit macht. Die Mitarbeiter und Gäste eines Diners, aber auch, wie später deutlich wird, sämtliche Menschen außerhalb, legen ihre Masken ab, lügen nicht mehr, sondern sprechen nur Wahrheiten aus. Ein Idealzustand? Keineswegs, denn binnen kürzester Zeit kommt es zu Mord und Totschlag.

Wenn dann am Ende der Folge der Sandman seinen Rubinring von Dee zurück erkämpft und ihm erklärt, dass er die Menschen durch den Zwang zur Wahrheit keineswegs ein Geschenk gemacht hat, sondern ihnen ihre Träume genommen hat, beginnt man auch als Laie den großen Bogen der Geschichte zu ahnen.

Allzu leicht mag man Träume als Flucht verniedlichen, als Versuch, der banalen oder bitteren Realität zu entkommen. Gaiman scheint größeres, philosophischeres im Sinn zu haben, eine Reflexion über die Kraft der Imagination, den Kampf von Träumen und Alpträumen, von Gut gegen Böse, der in einer schönen Szene in der Hölle angedeutet wird, wenn der Sandman gegen Luzifer kämpft.

Die Aufgabe, seine während der langen Gefangenschaft zerstörte Welt wieder aufzubauen, dürfte der Sandman kaum in nur einer Staffel erledigen können, das wäre sicher auch nicht im Sinne von Netflix. Ein so hohes Budget wie seinen Prestigeserien scheint der Sender nicht zur Verfügung gestellt zu haben. Aber was sich unschön auf die Spezialeffekte auswirkte, könnte auch den Vorteil haben, das ein viel geringerer Zuschauerzuspruch reicht, um eine weitere Staffel zu ermöglichen. Und trotz eines für Sandman-Neueinsteiger schwer verständlichen Anfangs: Dank komplexer Figuren und einer ambitionierten Geschichte beginnt „The Sandman“ bald sehr zu fesseln. So sehr, dass zumindest dieser Autor bald das Projekt in Angriff nehmen wird und Neil Gaimans Epos zu lesen, um diese eklatante Bildungslücke zu schließen.

The Sandman • USA 2022 • Creator: Neil Gaiman, David Goyer und Allan Heinberg • Darsteller: Tom Sturridge, Jenna Coleman, David Thewlis zehn Folgen, jetzt bei Netflix

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