10. Juli 2017 1 Likes

Anderwelt, mal anders

Von musikalischen und phantastischen Sommerträumen

Lesezeit: 4 min.

In den beliebtesten Alternativweltengeschichten ist immer mächtig was los. Jedes Mal hat ein entscheidendes Ereignis der Historie, wie wir sie kennen, eine andere Wendung genommen:

Die Perser obsiegen bei Salamis über die Spartaner, so dass ganz Europa persisch wird (sogar Münster und Marl); Napoleon triumphiert bei Waterloo; Schalke 04 wird im Jahr 2001 knapp vor Bayern München Meister; John F. Kennedy hat schon mehrfach seinen Tod in Dallas überlebt; die Südstaatler besiegen gelegentlich die Yankees; und besonders gern genommen: der Endsieg (oder wenigstens: der zwischenzeitliche Endsieg) der Nazis.

Auch die computerspielende Dorfjugend hält sich gerne in virtuellen Welten auf, in denen sich Nazis tummeln: Command & Conquer: Red Alert, Sniper Elite, Wolfenstein 3D und Wolfenstein: The New Order oder Turning Point: Fall of Liberty. Ersatzweise gerne genommen werden noch die UdSSR (World in Conflict) oder Kim Jong-un und seine Weltmacht, das vereinigte Korea (Homefront).

Ob es vice versa in Korea Computerspiele gibt, in denen der Egoshooter sich und den Seinen den Weg zum Herz der Finsternis in Washington freiballert, um die Welt vor einem zombiösen US-Präsidenten zu befreien? Ob in Russland computereskes Heldenvolk unterwegs ist, das die freie Welt gegen arglistige, fiese Finnen verteidigt? Kann man dort in die virtuelle Haut eines herzensguten KGB-Agenten schlüpfen?

Wie auch immer. Vor einigen Tagen besuchte ich mit meinem Sohn das Vainstream Rockfest in Münster. Die alte Täufer-Metropole zeigte sich im verwaschensten Sommerregengrau; Parkhäuser und Parkplätze waren proppevoll, nur die berühmten Täuferkörbe, in denen die Leichen von Jan van Leiden (seines Zeichens selbsternannter König des Königreichs Zion), Bernd Krechting und Bernd Knipperdolling ausgestellt worden waren, baumelten leer an der Lamberti-Kirche. Man hatte damals den Delinquenten zur ernsthaften Ermahnung ihrer selbst wie auch des zu unterweisenden Publikums mit glühenden Zangen die Zungen herausgerissen und die Leiber zerfetzt. Immerhin: Der Friede zwischen Katholiken und Protestanten, hier anno 1648 geschlossen, schien zu halten.

Auf dem Festival gastierten unter anderem Northlane, Notions, Comeback Kid, dann die großartigen Dropkick Murphy, meine derzeitige Lieblingsband (nicht-deutschsprachig) Against me! sowie meine Lieblingsband (deutschsprachig) Broilers und – ta dam! – Feine Sahne Fischfilet.

Besonders die Feine Sahne mit ihrem gewaltigen Barden Jan Monchi Gorkow machte was her; die Fans sangen textsicher so gut wie jedes Lied mit, und bei „Ich vergesse nie die Tage, da draußen auf dem Meer“ tobte die Menge, bebte der Boden. Konfettikanonen bliesen Unmengen Glitzerzeugs in die Luft. Über den Köpfen des Publikums tanzte ein mit drei Mann besetztes güldenes Gummiboot, emporgehalten und vorwärtsgetragen von den Armen der singenden Massen. Mir war, als wären König Jan van Leiden, Knipperdolling & Co. in die Stadt zurückgekehrt, umgeben von ihrem jubelnden Tross.

Und meine Frau?

Die war nicht da, sondern woanders. Sie spielt in einem Orchester, und an diesem Tag musste sie mit diesem ihrem Orchester einen Auftritt absolvieren, und zwar in der sympathischen Ruhrgebietsstadt Marl (Motto: „Marl! Was sonst?“). Man brachte im dortigen Theater zwei sinfonische Dichtungen aus dem Zyklus „Mein Vaterland“ von Bedřich Smetana zu Gehör, Frank Liszts Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 in Es-Dur und last but not least Beethovens Sinfonie Nr. 5 in c-Moll op. 67. In den Pausen reicht man Sekt in Gläsern mit langen Stielen und Salzgebäck. Außerhalb der Pause sitzt man in behaglichen Sitzen, lauscht, blättert allenfalls sachte im Programmheft oder summt mit, aber nur ganz, ganz leise.

Während ich dem Fischfilet lauschte und an meine Frau dachte, dachte ich: Warum dichten die phantastischen Dichter ihre Anderweltromane nicht einmal anders, nämlich so: Napoleon hat bei Waterloo die Schlacht verloren; John F. Kennedy bleibt tot; von Hitler and his Nazis: keine Rede.

Stattdessen sitzen wir bei Against me! und den Broilers auf Polstersesseln, lauschen andächtig und wippen allenfalls einmal fachmännisch mit dem Fuß. In den Pausen nippen wir Sekt aus Gläsern mit langen Stielen und knuspern Salzgebäck.

Als dagegen im abschließenden Stück von Smetanas Vaterland-Zyklus intoniert wird, wie der heilige König Wenzel zusammen mit den letzten hussitischen Rittern aufbricht, um das Vaterland zu retten, gibt es im Stadttheater Marl kein Halten mehr: Das Publikum ist aufgesprungen, singt, ja schreit mit zum Himmel gestreckten Armen mit, der Boden bebt, ein aufgeblasenes Gummiboot tanzt über den Häuptern der Massen wie in einer Sturmflut, und zu guter Letzt feuert der Dirigent mit der linken Hand (mit der rechten schwingt er den Taktstock) eine Ladung Glitzerkonfetti ab, die ihresgleichen sucht.

Wäre das nichts?
 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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