9. April 2018

Maschinenkunst und Ai Weiwei

Ein Ausblick auf die Literatur der Zukunft

Lesezeit: 4 min.

Neulich hatte ich folgenden Traum: Ich war auf einer Party oder einem Empfang; überall Damen und Herren in angemessener Abendkleidung; das Buffet auf langen Tischen angerichtet; Flaschen voller Sekt und Rum und Waldmeisterbrause. Allerdings fehlten – was mir ein wenig peinlich war, obwohl ich Gast war und nicht Gastgeber – die Gläser. Kaum hatte ich das bemerkt, trat wie auf’s Stichwort aus einem Nebenraum Ai Weiwei in den Saal. Er trug mit beiden Händen eine Art Käseigel, gespickt allerdings nicht mit Käse- und Weintraubenhappen auf Spießchen, sondern mit Sektgläsern.

Da dachte ich: Sieh mal an – der Ai Weiwei!

Nun wird jemand, der sich auf die bildende Kunst versteht, antworten: „Also, mich wundert das gar nicht. Ai Weiwei hat doch im Jahr 2010 den von Kasseler Bürgern gestifteten Bürgerpreis ‚Das Glas der Vernunft‘ gewonnen, einen Preis, der an Künstler, Politiker und Wissenschaftler (nicht aber an Torhüter, Wäschemangelbesitzer oder Modistinnen) vergeben wird, die sich um Aufklärung, Vernunft und Toleranz verdient gemacht haben. Er ist mit 10.000 Euro dotiert. Das sollte man wissen.“

Wusste ich aber gar nicht.

Wusste es mein Unterbewusstsein (an das ich eigentlich nicht glaube)? Und wieso sollte mein theoretisches Unterbewusstsein besser informiert sein als ich?

Auch bei der Lektüre des einen oder anderen Romans beschleicht mich der Verdacht, dass hier kein sachdienlicher Verstand Pate gestanden hat, sondern verantwortungslose Träumerei. Der Sohn eines britischen Lords wird in Afrika von einer Affendame adoptiert und Tarzan getauft, ein Name aus der Affensprache Mangani? Aber sicher! Ein gediegener Hochschullehrer verwettet seine Seele an den Teufel? Wer’s glaubt. Irgendwer verleumdet den braven Bankbeamten Josef K., und der wird, ohne dass er etwas Böses getan hätte, eines Morgens verhaftet? Was für ein Albtraum, in einem Rechtsstaat undenkbar.

Vor einigen Jahren las ich zum ersten Mal eine Geschichte, die nicht von einem traumdepperten Menschen verfasst worden ist, sondern von einem Computerprogramm. Diese Geschichte hat sich mir eingeprägt, sie geht so: „Ein Mann geht im Park spazieren. Eine Frau geht auch im Park spazieren. Die beiden begegnen sich. Der Mann will sich mit der Frau paaren. Die Frau will nicht. Ende.“ Ohne Schnörkel, auf den Punkt, brillant. Ich dachte damals, dies könnte der Anfang einer neuen Art von Literatur sein: lebenswahre, logische Geschichten, die unsere schnelllebige Zeit widerspiegeln und alles Überflüssige, alles Unkalkulierbare scheuen.

Nun aber haben unsere Algorithmenprogrammierer eine künstliche Intelligenz gezüchtet, die künstlerischer Intelligenz nacheifern soll. Die Botnik Studios haben (mit Erlaubnis der Autorin) „Harry Potter“ fortgeschrieben, und was sie schreiben, klingt erschreckend originell. Der Titel der Fortsetzung lautet „Harry Potter und das Portrait von etwas, das wie ein hoher Haufen Asche aussah“ („Harry Potter and the Portrait of What Looked Like a Large Pile of Ash“).

Zu Beginn des Schmökers von drei Seiten hat Ron einen denkwürdigen Auftritt: „Ron was standing there and doing a kind of frenzied tap dance. He saw Harry and immediately began to eat Hermione’s family.” (Also ungefähr: „Ron stand herum und legte einen fieberhaften Stepptanz auf’s Parkett. Er entdeckte Harry und begann unverzüglich damit, Hermines Familie aufzuessen.“) Haben wir das von Ron erwartet? In „Harry Potter und der Feuerkelch“ ist Ron ja noch nicht der begeisterte Tänzer, aber gegessen hat er schon damals viel, gerne und gut. Also: eine durchaus glaubwürdige, wenn auch unverhoffte Weiterentwicklung der Figur.

Die Todesser spielen ebenfalls eine Rolle, und zwar eine überraschende: „‚I think it’s okay if you like me’, said one Death Eater. ‚Thank you very much’, replied the other. The first Death Eater confidently leaned forward to plant a kiss on his cheek. ‚Oh! Well done!’, said the second as his friend stepped back again. All the other Death Eaters clapped politely.” (Also etwa: „‚Das ist schon okay, wenn du mich magst‘, sagte einer der Todesser. ‚Recht herzlichen Dank‘, antwortete der andere. Der erste Todesser beugte sich siegessicher vor und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. ‚Oh! Gut gemacht!‘, sagte der zweite, als sein Freund einen Schritt zurücktrat. Alle anderen Todesser spendeten höflich Beifall.“)

Selbstverständlich taucht auch Voldemort auf; Ron bewirft ihn mit seinem Zauberstab, worauf jedermann applaudiert. Harry tunkt Hermione (Hermine) in eine scharfe Sauce: „The Death Eaters were dead now, and Harry was hungrier than he had ever been.” („Die Todesser waren tot, und Harry war hungriger als je zuvor in seinem Leben.“)

Keine Frage: Die Algorithmen werden sich weiter verbessern. Wie von Zauberhand werden bald die neuen Romane auf dem Markt erscheinen; sie werden immer fugenlosere Geschichten erzählen, und bald werden sie – wie die Rechen- und Schachmaschinen – die menschlichen Meister des Fachs überbieten. Bald werden die Mann-trifft-Frau-im-Park-Geschichten happy enden, Herzerwärmendes im Stil von Jojo Moyes wird Leserinnen (und manchen Leser) beglücken, Romane, in denen es moyesischer zugeht als je bei Moyes: „Ein ganzes halbes Jahr“, „Ein ganz neues Leben“ oder „Mein Herz in zwei Welten“ waren gestern; morgen liest man „Ein halbes ganzes Herz“, „Zwei halbe Herzen in einer ganz neuen Welt“, „Ein ganzes Halbes herzt zwei neuen Welten“.

Die Literatur der Zukunft wird sich den lästigen Umweg über Autor, Lektor, Druck und dergleichen sparen. Preiswert werden sie sein, die neuen Romane, kostenlos, dem Algorithmus giert es ja nicht nach Geld und Gold und eitel Ruhm. Dienstbar und unermüdlich wird er dichten, was seine Leserschaft erwartet, Wort für Wort und fehlerlos.

Wird auch einem wie mir geholfen? Ich weiß nicht. Aber ich will mich gegen das Neue auch nicht sperren. Wer weiß, vielleicht kennt ja ein künftiger Algorithmus die Antwort auf die Frage, was Ai Weiwei in meinen Träumen sucht.

Das Glas der Vernunft wohl kaum.

Denn das hat er ja schon.
 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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