25. Juli 2016 3 Likes 1

Drug Fiction

Zur seltsamen Wechselwirkung zwischen Fantasie und Drogenrealität

Lesezeit: 7 min.

Die TV-Kultserie „Breaking Bad“ war nur ein Symptom. In der Realität steigt die Zahl nichtgetesteter aber frei erhältlicher psychoaktiver Substanzen seit Jahren dramatisch an. Wie der jährliche EMCDDA-Europol-Drogenbericht zeigt, wurden allein 2015 hundert neue synthetische Drogenpräparate auf den Markt gebracht – also rund zwei neue Substanzen pro Woche!

„Synthetisch“ klingt irgendwie sauber und ungefährlich, aber das täuscht, denn gerade „Partydrogen“ führen seit Jahren zu vermehrten Vergiftungs- oder gar Todesfällen. Der „Krieg gegen Drogen“ ist phänomenal gescheitert. Allein über das Internet sind heute rund tausend Online-Shops verfügbar, die zumindest eine psychoaktive Substanz anbieten. Drogen sind ein wirtschaftliches Schwergewicht, das viele traditionelle Branchen weit hinter sich lässt: Allein mit Cannabis werden in der EU jährlich 9,3 Milliarden Euro umgesetzt, mit Heroin 6,8 und mit Kokain 5,7 Milliarden. Amphetamine nehmen immerhin noch 8 Prozent des europäischen Drogenumsatzes ein, und auf Platz fünf meldet sich die 1990er-Droge Ecstasy zurück (0,7 Prozent = 3 Milliarden Euro).

Wie der Philosoph Thomas Metzinger schreibt, liegt die tiefere Ursache der heutigen Situation darin, dass sich die westliche Welt Mitte des 20. Jahrhunderts bewusst für eine Kultur der Leugnung und Unterdrückung entschied. Als man in den 1960er Jahren erlebte, wie mit LSD eine halbsynthetische psychedelische Droge ihren Siegeszug antrat, hätte man vielleicht eine Chance gehabt, mit dieser Herausforderung argumentativ und rational umzugehen; stattdessen wurden die Drogen in den Untergrund verdrängt, von wo aus sie heute – globalisiert und wissenschaftlich ausgefuchst – umso stärker zurück schlagen. Eine Entwicklung, die sich nicht mehr rückgängig machen lässt und deren Zukunft wir nicht mehr steuern können.

Bei Fragen der Zukunft ist es immer interessant, die Science Fiction zu betrachten. Ist nicht gerade sie – als phantastische Literaturgattung – geradezu ein Inbegriff für Schriftsteller, die ihr Bewusstsein auf mehr oder weniger legale Weise „erweitern“? Wie berauscht war Edgar Allen Poe, als er die ersten „echten“ SF-Stories verfasste? Genoss Mary Shelley etwa zuviel Laudanum, als sie „Frankenstein“ schrieb? Hat Jules Verne jemals Opium ausprobiert? Und H. P. Lovecraft sich mit Kokain in Stimmung gebracht? Wir wissen es nicht – auch weil ihre Werke sich oft nur verklausuliert über die Effekte bestimmter Substanzen äußern –, haben aber so unsere Vermutungen.

Etwas klarer ist die Sachlage bei den späteren Autoren. So beschreibt Aldous Huxley in „Schöne neue Welt“ ganz explizit die Auswirkungen der Droge Soma: Ein Antidepressivum in Tablettenform und als Flüssigkeit bzw. auch als Gas erhältlich, das ein starkes Glücksgefühl und höchste Zufriedenheit hervorruft, ganz ohne Nebenwirkungen – abgesehen davon, dass es den für die Atmung zuständigen Teil des Rückenmarks lahmlegen kann. Huxley selbst unternahm seinen ersten Versuch mit LSD 1955 gemeinsam mit dem mysteriösen Alfred M. Hubbard und dem Schriftsteller Gerald Heard. Eine Erfahrung, die ihn offenbar sein restliches Leben lang begleitete, denn wir finden das Thema auch in seinem letzten Roman „Island“ (in dem die Menschheit unter Drogen sämtliche Kritikfähigkeit verliert).

Zu den Autoren der LSD-Kultur gehörte – neben Brian W. Aldiss und Robert A. Heinlein – selbstverständlich auch der große Philip K. Dick. Soweit wir wissen, führte er umfangreiche „Feldversuche“ mit Amphetaminen und LSD durch und schrieb – mit diversen Aufputschmitteln – bis zu sechzig Seiten am Tag. Viele Erfahrungen dieser Zeit scheinen in seinen Roman „Der dunkle Schirm“ eingeflossen zu sein – einer der besten und abgründigsten Darstellungen von Drogensucht. Dick erfand aber auch, zumindest literarisch, seine eigenen Drogen: Etwa Can-D und Chew-Z, illegale Psychopharmaka aus „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch“. Darüber hinaus verdanken wir ihm Substance D, eine Mischung aus Crack und LSD, sowie Neuronin (eine Art gasförmiges Heroin) und KR-3, eine Experimentaldroge, welche die Hirnleistung verändert, bis man zwischen alternativen Realitäten unterscheiden kann.

Alle möglichen Arten von Drogen zog sich auch William S. Burroughs rein, der schriftstellerisch zwischen Beat, Horror und Science-Fiction wandelte. Bei ihm führen psychoaktive Substanzen zuerst zu willkommener Weltflucht, dann jedoch zu bedrohlichen Halluzinationen und Paranoia.

In „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess wiederum finden wir in der „guten alten“ Korova-Milchbar einen Cocktail bewusstseinsverändernder Chemikalien namens Moloko Plus. Diese bringen den Protagonisten Alex und seine Freunde flugs in den Ausgangszustand, um alte Frauen auszurauben, Obdachlose zu misshandeln und weitere Straftaten zu begehen. Einer der Bestandteile dieser Droge – Drencrom – ist angeblich an Adrenochrom angelehnt, eine oxidierte Form von Adrenalin, das übrigens in einem anderen Klassiker der Grenzliteratur auftaucht: „Fear and Loathing in Las Vegas“ von Hunter S. Thompson.

Auch Thomas M. Disch setzte sich mit Drogen auseinander, vor allem in seinem Roman „Camp Concentration“: Hier greift die US-Regierung in einer nahen Zukunft hart durch und sperrt linke Intellektuelle in Lager, wo sie Drogenversuchen unterzogen werden, um ihre geistigen Kräfte zu erhöhen und nutzbar zu machen.

Teilweise sehr psychedelisch wirken die Werke von J. G. Ballard. Während ihm in „Crash“ und „High Rise“ noch die surrealen Aspekte der menschlichen Psyche genügen, um ein drogenähnliches Lesegefühl aufkommen zu lassen, wird er 1996 in „Cocaine Nights“ expliziter und entlarvt eine Gesellschaft, die vordergründig perfekt erscheint, als innerlich zerfressen und von Süchten geplagt. Ballards eigene Sucht in späteren Lebensjahren war übrigens das Fernsehen: Seiner Meinung nach konnte man sich nur ein adäquates Bild unserer Welt verschaffen, wenn man täglich eine gewisse Stundenanzahl vor der Glotze verbringt.

Nicht in den TV-Apparat, sondern ins Innere der Computer flüchtete William Gibson in Werken wie „Neuromancer“. Schon allein die virtuelle Welt wirkt bewusstseinserweiternd wie ein Drogenrausch. Zusätzlich strotzt Gibsons Werk jedoch geradezu vor echten und erfundenen Drogen: Ketamin, Betaphenethylamin, Dexedrine … Sie alle helfen paradoxerweise das Entzugsgefühl zu lindern, sobald die Protagonisten sich nicht mehr im Cyberspace aufhalten können. Mittels selbstklebender Pflaster auf der Haut oder geschnupft sorgen halluzinogene Amphetamine wie Dancer oder The Fear für einen trostlosen Ersatzkick. Gibsons bevorzugte Droge war übrigens – nach eigener augenzwinkernder Auskunft – O’Keefe’s Extra Old Stock Lager, ein gesellschaftstaugliches Flüssigsedativ.

Die Liste SF-literarischer Drogen ist in ihrer Originalität erstaunlich und ergäbe eine Menge, auf die so manche Apotheke neidisch wäre. Wir finden darin etwa Merge, eine Designerdroge aus Rudy Ruckers Cyberpunk-Novelle „Wetware“. Sie lässt Sexualpartner regelrecht ineinander fließen und zu einer gemeinsamen Pfütze erotischen Schleims werden. Eleganter und berühmter ist Spice, jene Gewürz-Melange vom fernen Planeten Arrakis, die Frank Herbert in „Der Wüstenplanet“ beschrieb. Mit ihr ist man in der Lage, blitzschnell und ohne Karte durch die unendlichen Weiten des Weltalls zu navigieren. Psychedelischer wirkt Hollow Head, die Droge aus John Shirleys Cyberpunk-Kurzgeschichte „Six Kinds of Darkness“: Sie ist eigentlich ein Drogenklub, doch jeder Raum lässt dich auf eine andere Art high werden – bis du im letzten Raum ihr wahres Geheimnis entdeckst. Das Halluzinogen Dreamgum wiederum taucht in den „Flusswelt“-Geschichten von Philip José Farmer auf: Verabreicht in Form eines länglichen Kaugummis führt es zu Sexzwang, Euphorie und wiedererwachten Erinnerungen. Gefährlicher für die Umgebung ist Ephemerol, ein Beruhigungsmittel, das in David Cronenbergs SF-Film „Scanners“ eigentlich gegen morgendliche Übelkeit helfen soll. Allerdings führen seine Nebenwirkungen zu bedrohlichen telekinetischen Kräften. Banaler und gleichzeitig authentischer klingt DMZ, erfunden vom viel zu früh verstorbenen Schriftsteller David Foster Wallace in seinem Buch „Unendlicher Spaß“: Er beschreibt es als „Acid, das selbst Acid einwirft“ – ein extrem starkes Halluzinogen aus Schimmelpilzen, das allerdings jegliche Fähigkeit, mit Menschen zu kommunizieren, abtötet. Und dann wäre da noch der Pangalaktische Donnergurgler, ein von Douglas Adams für „Per Anhalter durch die Galaxis“ erfundener Drink, der mehr Alkohol als jedes andere Mixgetränk im ganzen Universum enthält.

Spaß beiseite. Interessanterweise schlug SF-Großmeister Arthur C. Clarke in seinem Alterswerk „Das letzte Theorem“ vor, den „Krieg gegen Drogen“ zu beenden und stattdessen Drogen zu legalisieren. Das wäre weitaus zielführender, denn eine Liberalisierung unterwirft auch psychoaktive Substanzen den harten Regeln des freien Wettbewerbs und entzieht sie damit dem kriminellen Umfeld. Statt unkontrollierbarer Kartelle sorgen Apotheken und staatliche Abgabestellen für eine übersichtliche Distribution in der Bevölkerung, Phänomene wie die Beschaffungskriminalität würden dadurch genauso verschwinden wie die Stigmatisierung der Süchtigen. In der Tat gibt es erste Staaten (sogar in den USA), die diesen Strategiewechsel ernsthaft überlegen oder sogar schon in ersten Schritten umsetzen.

Freilich sprechen wir hierbei nur von den konventionellen Drogen. Die Science-Fiction jedoch ist schon einen Sprung weiter und präsentierte uns in den letzten Jahren Substanzen, von denen man nur hoffen kann, dass sie Fiktion bleiben. In Luc Bessons Film „Lucy“ etwa führen Drogen, die in den Stoffwechsel einer Kurierin gelangen, zu ungeahnten Superkräften. Im Roman „Flashback“ von Dan Simmons überlagert eine neue psychoaktive Substanz die Erinnerung und lässt Ereignisse immer und immer wieder neu erleben. Dies gemahnt wiederum an den 1990er Film „Strange Days“, in dem SQUID – ein halborganischer Kopfaufsatz – die Erinnerungen und Empfindungen einer Person lebensnah von jemand anderem nacherleben lässt. In Vladimir Sorokins Roman „Telluria“ hingegen, wird eine Droge, mit der sich Zeit und Raum überwinden lassen, gleich per Nagel in den Kopf eingedroschen. Und in Mike Floyds Erzählung „Psychonaut“ schließlich wurden ganze Landstriche durch die Psychodroge Acidium L verseucht, die bei Kriegshandlungen zwischen dem Westen und den „Vereinigten Islamischen Staaten“ großräumig versprüht wurde. Sie führt zu Bewusstseinsveränderungen und lässt ihre Opfer zu „Psychonauten“ werden – ein Begriff übrigens, den schon Ernst Jünger für Drogenforscher prägte: Im Gegensatz zu Astronauten bewegen sie sich nicht in die Weiten des Weltalls, sondern in die Tiefen der menschlichen Seele.

Hier schließt sich der Kreis, den die Science-Fiction beschreibt: Von den weit entfernten Rändern des Universums, die wir mit Substanzen wie Spice erkunden könnten, bis zur psychoaktiven Manipulation unserer winzigen Neuronen. Stets sind es unsere Sehnsüchte und unbewältigten Ängste, die das Einfallstor für Drogen öffnen – mit all ihren unvermeidbaren Nebenwirkungen, organische wie soziale und politische. Doch eine Substanz gibt es immerhin, die unser Bewusstsein gefahrlos erweitert und uns in fremde Welten führt, ohne uns mit Flashbacks und Cold Turkeys erwachen zu lassen. Es ist die Literatur, zumal die phantastische. Das wäre doch eine Geheimwaffe im Anti-Drogen-Krieg …
 

Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

Kommentare

Bild des Benutzers Hans Schilling

Es gibt aber auch den gegensätzlichen Ansatz:
Stephen King sagte zu "Tommyknockers": ist ein grässliches Buch. Das war das letzte, das ich geschrieben habe, bevor ich clean wurde, ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht und mir gesagt: Unter all der unechten Energie, die das Kokain liefert, ist ein wirklich gutes Buch versteckt."
Als weiteres Beispiel nennt er "Dreamcatcher", das unter dem Einfluss des Schmerzmittels Oxycodon entstanden sei, nachdem King 1999 von einem Auto angefahren wurde: "Ich war von dem Oxy ziemlich stoned, als ich das geschrieben habe. Es ist ein weiteres Buch, das die Drogen bei der Arbeit zeigt."

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