1. Mai 2017 1 Likes

Unsere Töchter, unsere Söhne

Von neuen juristischen Erkenntnissen auf dem Generationenschiff Erde

Lesezeit: 7 min.

Es ist nicht gerade leicht, seinen Namen auszusprechen, trotzdem sollte man sich diesen Namen merken: Xiuhtezcatl Martinez ist ein sechzehnjähriger amerikanischer Umweltaktivist, der gegen die US-Regierung vor Gericht gezogen ist, um sie zur Einhaltung der sogenannten „public trust doctrine“ zu verpflichten, ein in vielen amerikanischen Bundesstaaten geltender Rechtsgrundsatz zur Bewahrung der natürlichen Ressourcen für künftige Generationen.

Man sollte sich auch den Namen der neunjährigen Ridhima Pandey aus dem nordindischen Bundesstaat Uttarakhand merken. Sie hat Klage gegen die indische Regierung eingereicht, die zwar, so die Klageschrift, das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet habe, aber nichts unternehme, um dieses Abkommen zu erfüllen – mit fatalen Folgen für die Kinder von heute, die einmal in einer von extremen Wetterverhältnissen geprägten Welt werden leben müssen.

Man sollte sich diese beiden Namen merken – und die vieler anderer Jugendlicher, die in ihren Ländern ähnliche Klagen vorbereiten –, weil mit ihnen etwas historisch Einmaliges verbunden ist: Hier ist eine Jugend, die nicht nur beansprucht, in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden zu werden (traditionell eine Forderung gesellschaftlich engagierter Jugendlicher), sondern die den gesamten politischen Entscheidungsprozess zu demaskieren versucht: mit juristischen Mitteln. Hier ist eine Jugend, die genau das einklagt, was die Entscheidungsträger seit jeher als das hehre Motiv für ihre Entscheidungen anführen: dass es um die Belange kommender Generationen geht, dass es um die Zukunft geht.

Doch die Zukunft hat offenbar genug von diesem Gesäusel. Die Zukunft zerrt die Gegenwart vor Gericht.

Und die Gegenwart wehrt sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln: So sind die Klagen in den USA und Indien zwar von den Gerichten angenommen worden (schon das eine Sensation), doch die Regierungen fahren schwerstes juristisches Geschütz auf, damit das alles nicht zu Urteilen führt, die sie teuer zu stehen kommen könnten. Aber die Gegenwart hat in dieser Sache nicht nur Geld zu verlieren, nein, sie hat auch einen Ruf zu verlieren. Denn denkt die Gegenwart etwa nicht ständig an die Zukunft? Orientiert sich nicht unser – damit sind jene Generationen gemeint, die derzeit an Hebeln der planetaren Macht sitzen – gesamtes Tun an der Maßgabe, „die Erde für die Kinder und Enkelkinder zu bewahren“? Ja, arbeiten wir nicht unentwegt daran, unsere zahlreichen gesellschaftlichen Subsysteme „zukunftsfit“ zu machen? Was beschweren sich die Kinder da? Was glauben sie eigentlich, wer sie sind?

Darauf gibt zwei Antworten: eine simple und eine komplizierte. Die simple lautet, dass all das Gerede über die „Welt, in der unsere Kinder und Enkel einmal leben werden“ kaum etwas anderes ist als: Gerede. Ein pathetisch aufgeladenes Ablenkungsmanöver, hinter dem sich die klägliche Praxis versteckt, bestimmte Probleme und die damit verbundenen schmerzhaften Entscheidungen einfach immer wieder in die Zukunft zu verschieben. Diese Praxis ist hinlänglich bekannt, sie nennt sich „Gegenwartspräferenz“ und prägt so ziemlich jedes derzeit auf der Erde implementierte politische System, ganz egal ob es sich als links oder rechts verkauft. Wenn also etwa auf einem G7-Gipfel verkündet wird, „die globale Wirtschaft bis zum Ende des Jahrhunderts so umzubauen, dass kein Kohlendioxid mehr freigesetzt wird“, dann wissen eigentlich alle (oder könnten es wissen), dass das kein konkreter Plan ist, sondern dass dieses Ziel erst erkämpft werden muss und dass dieser Kampf ziemlich wehtun wird. Nichts Neues insofern unter dem politischen Himmel, auch nicht im 21. Jahrhundert – seit jeher haben die tonangebenden Generationen auf dem Generationenschiff Erde von ihren Nachkommen gestohlen.

Die zweite Antwort ist deshalb kompliziert, weil sie die heikle und bisher nur rudimentär erforschte sozialpsychologische Verbindung zwischen in der Gegenwart lebenden Menschen und in der Zukunft lebenden Menschen berührt. Ganz praktisch betrachtet, sind die in der Gegenwart lebenden Menschen bezüglich der in der Zukunft lebenden Menschen ja für mindestens zwei Dinge verantwortlich: Zum einen dafür, dass letztere überhaupt existieren werden; und zum anderen dafür, wie die Welt, in der letztere existieren werden, aussehen wird. Diese Verantwortung jedoch erzeugt überraschenderweise in den allermeisten Fällen kein Verantwortungsbewusstsein. So haben Studien ergeben, dass sich eine jeweilige Generation kaum dafür interessiert, in welcher Situation sich die nächste oder übernächste einmal befinden wird, und dass dieses mangelnde Interesse bei Menschen mit Kindern besonders stark ausgeprägt ist. Salopp gesagt: Man sorgt dafür, dass man den Kindern dies und das mit auf den Weg gibt, aber dann müssen sie selbst sehen, wie sie zurechtkommen. Und im Übrigen gilt, was der alte Adenauer stets sagte: Et hätt noch emmer joot jejange.

Nun gut, fast jeder, der auf diesem Planeten geboren wird, merkt irgendwann, dass das Leben kein Wunschkonzert ist und dass man eben sehen muss, wie man zurechtkommt (wobei die Startchancen auf dem Planeten ziemlich ungleich verteilt sind). Aber dass wir – also die in der Gegenwart Tonangebenden – dieses Zurechtkommen auf absehbare Zeit (eigentlich auf unabsehbare Zeit) definieren, ist etwas Neues. So sind etwa alle Kinder, die nach dem Jahr 2000 geboren wurden und werden, Kinder des von vergangenen Generationen gestarteten und von unserer Generation weiter befeuerten Klimawandels. Alle Kinder, die nach dem Jahr 2000 geboren wurden und werden, sind Teil eines gigantischen Experiments (das größte und womöglich katastrophalste, das die Menschheit bisher auf den Weg gebracht hat), das wir nicht fähig sind, zu beenden.

Ach so, das wissen Sie schon? Das haben Sie schon tausendmal gehört? Das können Sie schon gar nicht mehr hören? Wunderbar, dann bleiben wir noch ein wenig bei sozialpsychologischen Befunden. Denn offensichtlich entwickeln Menschen zwei grundlegende Strategien, wenn sie mit einer so desaströsen wie beschämenden, mithin also unerträglichen Tatsache konfrontiert sind: Die eine Strategie nennt sich „numbing“ (also das konsequente Ausblenden dieser Tatsache im Alltag – das sind jene Leute, die einfach ihr Leben leben, während im Hinterkopf leise die Hoffnung pulsiert, dass sich schon irgendjemand um das ganze Schlamassel kümmern wird); die andere „doubling“ (also das Aufspalten des eigenen Ichs in einen Teil, der „weiß“, und einen, der „nicht weiß“ – das sind jene, die gerne mal zum Shoppen nach London fliegen und gleichzeitig an Greenpeace spenden). Mit beiden Strategien kann man hervorragend Kinder großziehen; ja, man kann sich mit beiden Strategien sogar bestens der Illusion hingeben, dass man das Äußerste für seine Kinder getan hat. Aber beide Strategien haben mit der Welt, in der die Kinder dann tatsächlich einmal leben werden, nichts zu tun – sie haben ausschließlich etwas mit der Welt tun, in der wir leben. In der wir das wahre Leben im falschen leben und, Adorno zum Trotz, versuchen, dabei Spaß zu haben.

Wir sollten uns also nicht wundern, wenn sich die Kinder beklagen. Oder eben: klagen.

Nun gilt das „Recht“, also die Jurisprudenz in all ihren Ausprägungen, ja nicht unbedingt als Hort des sozialen Fortschritts; allzu oft war und ist es ein willfähriges Instrument der politisch Mächtigen (ganz aktuell kann man das in der Türkei beobachten). Aber der Eindruck täuscht: Unzählige Fortschritte in der Vergangenheit wurden durch Gerichtsurteile ermöglicht, an denen sich Politik orientieren musste. Das gilt auf nationaler Ebene (der derzeitige amerikanische Präsident kann ein Lied davon singen) genauso wie auf internationaler (bei all seinen Defiziten ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag eine echte zivilisatorische Errungenschaft). Warum es also in der gegenwärtigen Misere, die vor allem eine ökologische und damit juristisch noch relativ unbearbeitete ist, nicht mal mit dem Recht versuchen? Entsprechende Einfallstore jedenfalls gibt es zuhauf. Beispielsweise ist es nur noch eine Frage der Zeit, dass der Status „Umweltflüchtling“ vor Gerichten anerkannt werden wird; längst müssen schon jetzt viele Menschen im Süden ihre Heimat verlassen, weil ihnen die verheerende Handels- und Fischereipolitik des Nordens die Lebensgrundlage entzogen hat. Außerdem finden wir in etlichen Verfassungen rund um die Welt Klauseln, die sich auf die Rechte kommender Generationen beziehen, beispielsweise im deutschen Grundgesetz Artikel 20a, wo es heißt: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“

Diese Klauseln sind sehr vage formuliert, und wer sich ein wenig mit dem Grundgesetz auskennt, weiß auch, dass Artikel 20a ein Staatsziel und kein Grundrecht ist, also nicht individuell eingeklagt werden kann. Aber Staatsziele können durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisiert und mit einem Grundrecht verbunden werden. Im Falle des 20a könnte man da etwa an das Recht auf Eigentum oder die Freiheit der Berufswahl denken. Und nicht zuletzt auch an Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Denn „künftige Generationen“ kann ja nur heißen: künftige Menschen. Und „künftige Menschen“ bezieht sich nicht auf irgendein waberndes Kollektiv, sondern auf die Summe aller Individuen, die einmal geboren werden – Individuen, die mit der in Artikel 20a normierten Verantwortung gemeint sein müssen.

Aber bevor wir hier ein juristisches Seminar eröffnen (allein das Wort „auch“ im 20a könnte ein ganzes Promotionsprojekt begründen): Ich weiß natürlich, dass sich die Politik die entsprechenden Formulierungen in den Verfassungen im Vorfeld gut überlegt hat, um sich in ihrem Handeln nicht allzu sehr einschränken zu lassen. Doch Politik ist eben nicht alles: Ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts etwa, das „künftige Generationen“ oder „natürliche Lebensgrundlagen“ näher definiert, hätte massive Folgen für die nachrangigen Gerichte und damit für die gesamte Rechtsprechung. Und es hätte massive Folgen für die politischen Auseinandersetzungen. Nicht alle dieser Auseinandersetzungen würden im Sinne der „künftigen Generationen“ ausgehen, trotzdem: Es wäre ein erster entscheidender Schritt, wenn man die Gegenwart nachhaltig, also mit der entsprechenden juristischen Expertise und Autorität versehen, darauf hinweist, dass sie nicht allein auf dem Planeten ist. Wenn man uns darauf hinweist, dass nach uns noch viele andere kommen werden – und dass diese vielen anderen in gewisser Weise bereits hier sind.

Xiuhtezcatl Martinez und Ridhima Pandey haben das erkannt. Und sie haben damit bewiesen, dass zumindest ein Satz, den wir wie eine Monstranz vor uns hertragen, wirklich stimmt.

Die Kinder sind die Zukunft.
 

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