12. Oktober 2015 3 Likes

The Vision Thing

Warum es besser ist, die Science-Fiction nicht mit allzu viel Zukunft zu belasten

Lesezeit: 4 min.

Vor kurzem war ich beim Arzt. Keine Sorge, ich gehe nicht in medizinische Details, ich erwähne das nur, weil es ein von meiner Firma gestellter Arzt war, der naturgemäß an der von mir Tag für Tag verrichteten Arbeit interessiert war. Und da ergab sich folgender Dialog …

Arzt: „Und was machen Sie im Verlag genau, Herr Mamczak?“ – Ich: „Ich bin da Lektor.“ – Arzt: „Interessant. Welche Bücher lektorieren Sie denn so?“ – Ich: „Ach, die mit den Raumschiffen drauf.“ – Arzt: „Sie meinen Science-Fiction-Bücher.“ – Ich: „Genau.“ – Arzt: „Hab ich im letzten Urlaub auch eins gelesen, so ein Science-Fiction-Buch.“ – Ich: „Aha.“ – Arzt: „War ganz spannend. Der Autor hieß Dick. Kennen Sie den?“ – Ich: „Ja. Philip K. Dick. Kenne ich.“ – Arzt: „Irrer Typ. Der hatte diese abgefahrenen Visionen von der Zukunft und hat sie dann aufgeschrieben. Echt irre.“

Das Gespräch ging noch etwas weiter, aber hier hake ich mal ein. Nicht weil ich es bedauerlicherweise versäumt habe, mit dem berühmten Helmut-Schmidt-Zitat „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ eine der Situation angemessene Pointe zu setzen. Sondern weil ich immer wieder über dieses Missverständnis stolpere: „Visionen von der Zukunft …“ Es ist ja schon ein Ärgernis, dass die Science-Fiction im Gegensatz zu anderen literarischen Genres in der breiteren Öffentlichkeit fast ausschließlich nach ihren trivialsten Beispielen beurteilt wird; aber ebenso ärgerlich ist es, dass jene, die die Science-Fiction-Autoren eigentlich loben wollen, ihnen eine Art seherische Kraft zusprechen. Haben diese Autoren nicht auf magische Weise Visionen von der Zukunft? Und verkünden sie uns diese Visionen nicht in ihren Geschichten?

Nein, tun sie nicht. Oder sagen wir: Das würden sie vielleicht gerne, aber es ist nun einmal so, dass Science-Fiction-Autoren keine Visionen von der Zukunft haben, sondern ihre Visionen in der Zukunft ansiedeln. Das ist ein bedeutender Unterschied. Gerade Philip K. Dick ist dafür ein wunderbares Beispiel. So hat er etwa in seiner (von Steven Spielberg verfilmten) Kurzgeschichte „The Minority Report“ eine zukünftige Behörde beschrieben, die Verbrecher festnimmt und verurteilt, bevor sie ihre Verbrechen begehen – eine wahrlich „abgefahrene Vision“, auf die sich nun all jene, seien es staatliche oder private Einrichtungen, beziehen, die aus den enormen Datenmengen, die das Internet zur Verfügung stellt, Wahrscheinlichkeiten berechnen, in welcher Gegend einer Stadt es möglicherweise zu einer Steigerung der Einbruchsrate kommen könnte. Ich bezweifle allerdings sehr, dass diese Leute Dicks Geschichte verstanden, wenn überhaupt gelesen haben. Denn seine „Pre-Crime-Behörde“ funktioniert nicht mit Big Data, sondern mit PSI-begabten Mutanten (ein Motiv, das der Autor immer wieder verwendet hat), was aus „The Minority Report“ keine Zukunftsvision macht, jedenfalls nicht im Sinne einer Zukunft, die wir uns vorstellen können – oder können Sie sich realistischerweise eine Zukunft vorstellen, in der PSI-begabte Mutanten die Zukunft vorhersagen? Nein, Dick baut seine Zukunftswelt so schlicht wie genial an einen ethischen Abgrund, an dem sich die Menschheit in ihrer Geschichte immer wieder befand: „Wir behaupten, sie sind schuldig“, lässt er den Chef der Behörde schon auf den ersten Seiten sagen. „Sie wiederum behaupten ununterbrochen, sie seien unschuldig. Und in gewissem Sinne sind sie unschuldig. In unserer Gesellschaft gibt es keine Schwerverbrechen, dafür haben wir ein Straflager voller Pseudoverbrecher.“

Das hat nun wirklich nichts mit „visionärer Polizeiarbeit“ zu tun, sondern illustriert auf hervorragende Weise, was die Science-Fiction zu leisten in der Lage ist, wenn sie eben nicht die Zukunft als verlängerte Erfahrung der Gegenwart beschreibt, sondern die Zukunft als Erfahrung der Zukunft: als ein Raum, der seine eigenen Vorraussetzungen setzt und nichts enthält, was zu diesen Vorraussetzungen im Widerspruch steht. PSI-begabte Mutanten? Warum nicht? Hauptsache, wir begreifen, wie sich eine Gesellschaft anfühlt, in der die Methode der Verbrechensbekämpfung das Verbrechen definiert und nicht andersherum. Eine solche Gesellschaft fühlt sich nämlich ziemlich übel an. Und es gibt solche Gesellschaften auf dem Planeten Erde.

Natürlich sehe ich es nicht als meine Aufgabe als Lektor, den Lesern zu sagen, wie sie etwas zu lesen haben; die Texte und Ideen sind dort draußen, und jeder kann damit tun, was er mag. Aber es gibt auch so etwas wie ästhetische Fairness – und wenn man der Science-Fiction einerseits vorwirft, Trivialmythen zu verbreiten, und andererseits von irgendwelchen Visionen schwärmt, die sich früher oder später zu bewahrheiten haben, dann nimmt man das Genre in einen kaum zu überwindenden Zangengriff. Und vor allem hat es nichts mehr damit zu tun, worum es eigentlich geht. Nämlich um Literatur. Um Kunst.

Philip K. Dick übrigens, das gehört zur Wahrheit dazu, hatte tatsächlich Visionen, die sich gegen Ende seines Lebens zu handfesten Halluzinationen auswuchsen und vermutlich konkrete medizinische Ursachen hatten. Er hat allerdings davon abgesehen, einen Arzt zu konsultieren, sondern hat einfach weiter großartige Romane und Kurzgeschichten geschrieben.

Wer weiß, vielleicht war das auch besser so.
 

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