18. März 2019 5 Likes

Wir Ideologen

Es gibt keine rationale Zukunftsdebatte, aber das Vernünftige können wir trotzdem tun

Lesezeit: 6 min.

Ich kann mich zwar nicht mehr genau erinnern, wie ich zu der Ehre kam, aber vor einigen Jahren war ich einmal zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, auf der es um „Umweltpolitische Perspektiven für das 21. Jahrhundert“ (oder so ähnlich) ging. Mit mir auf dem Podium waren: ein Klimaforscher, eine Kommunikationsberaterin und ein Politiker aus dem eher konservativen Spektrum. Patente Leute also, zumal der Politiker inzwischen eine ziemlich steile Karriere in der bayerischen Landespolitik hingelegt hat (was man ihm damals bereits vorhersagte). Jedenfalls, wie es bei solchen Themen recht häufig vorkommt, waberte unsere Diskussion durchs Ungefähre, Wohlmeinende und Appellative, bis uns der Moderator nach einer Weile aufforderte, jetzt doch endlich „konkret“ zu werden, und die Diskutanten um ihre persönlichen umweltpolitischen Ideen bat. Ich nahm diese Einladung dankbar an und machte den Vorschlag, dass man – solange der Flugverkehr völlig unreguliert dazu beiträgt, die Atmosphäre aufzuheizen – darüber nachdenken sollte, Fernflüge zu kontingentieren, vielleicht, nur so als Richtschnur, auf einen Flug pro Jahr und pro Reisenden. Der Vorschlag war eher spontan, also nicht bis ins letzte Detail durchdacht, aber er war durchaus ernst gemeint. Wer denkt, wir könnten die ökologische Stabilität des Planeten bewahren, ohne liebgewordene Gewohnheiten infrage zu stellen, der täuscht sich gewaltig.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs ging es aber überhaupt nicht um die Umsetzbarkeit dieser Idee im Detail. Als hätte ich eine Stinkbombe in den Raum geworfen, fielen meine Mitdiskutanten fast schon wutentbrannt über mich her, warfen mir „Verfassungsbruch“, „Freiheitsberaubung“ und noch Schlimmeres vor, und schließlich beschied der Politiker aus dem eher konservativen Spektrum, ich würde nur eine „Ideologie“ verbreiten und man solle sich doch mit „Realistischem“ befassen. Damit war die Diskussion beendet.

Nun verfolge ich schon seit Längerem Debatten im öffentlichen Raum und weiß natürlich, dass das Wort Ideologie so eine Art finaler Rettungsschuss im diskursiven Hin und Her ist. Ganz egal, worum es gerade geht, dem Gegenüber zu bescheinigen, er oder sie äußere sich ideologisch, ist das ultimative Totschlagargument – das Diktum nämlich, der andere verfolge eine politische Agenda, die mit dem eigentlichen Problem gar nichts zu tun hat, oder noch schlimmer: eine Agenda, die das eigentliche Problem für dubiose Zwecke instrumentalisiert. (Diesen finalen Ideologievorwurf haben übrigens alle politischen Player im Programm; ob links oder rechts, ob grün oder gelb – im Zweifel ist der Gegner eben ein Ideologe.) In dieser Hinsicht also reagierte der Politiker aus dem eher konservativen Spektrum damals ziemlich vorhersehbar auf meine Idee mit den Flugreisen; es gab für ihn einfach keinen Grund, sich mit diesem Vorschlag auseinanderzusetzen, weil er damit bei seiner Wählerklientel ohnehin nichts gewinnen kann. Also griff er zum rhetorischen Hammer. So weit, so banal.

Kürzlich jedoch, als in einem Zeitungskommentar den zahlreichen Jugendlichen, die gerade weltweit – Stichwort „Fridays for Future“ – für eine bessere Klimapolitik auf die Straße gehen, vorgeworfen wurde, sie seien „ideologiegetrieben“, fiel mir diese kleine Episode wieder ein. Und mir wurde bewusst, dass das Wort Ideologie nicht nur eine diskursive Allzweckwaffe ist, sondern der Schlüsselbegriff in der großen Zukunftsdebatte, die die Menschheit immer wieder neu führt.

Wir sind nämlich alle „ideologiegetrieben“. Sämtliche Ordnungen, die sich Menschen für ihr Zusammenleben ausdenken und die sie propagieren, weil sie sie für die geeignetsten halten, sind erfunden: Produkte der Imagination, Geschichten, die wir uns über die Wirklichkeit erzählen, die mit der Wirklichkeit aber nicht unbedingt etwas zu tun haben und daher auch ständig Gefahr laufen, in sich zusammenzufallen, wenn ihnen die Wirklichkeit in die Quere kommt. Sehr oft haben diese Gesellschaftskonstrukte einen performativen Charakter, weshalb Marx sie als Ausdruck eines die Realität verzerrenden „falschen Bewusstseins“ gesehen hat – eben als Ideologien, die eine spezifische Funktion erfüllen: Partikularinteressen werden damit als Interessen der Allgemeinheit ausgegeben. Dem kann man, so Marx weiter, entgegenwirken, indem man „Ideologiekritik“ übt, um die wahren Verhältnisse zu verstehen und zu verändern. (Es ist insofern einer der großen Treppenwitze der Ideengeschichte, dass der Marxismus später selbst zur lupenreinen Ideologie mutierte.)

Während es allerdings bei Marx um die Herrschaftsansprüche einer kleinen Gruppe in einer bestimmten Gesellschaftsform ging, haben wir es im 21. Jahrhundert mit einer Ideologie zu tun, die praktisch alle Gesellschaften über- und unterformt, ganz gleich, in welcher Entwicklungsphase sich diese gerade befinden. Denn der wirkmächtigste Treiber der Moderne war und ist die Vorstellung, dass die Naturressourcen, mit denen wir unseren zivilisatorischen Fortschritt befeuern, unbegrenzt vorhanden sind. Wenn eine Ideologie im engen Sinne eine falsche Theorie über die Wirklichkeit ist, dann verhalten sich die allermeisten von uns ideologisch: eben so, als könnten wir die Wirklichkeit unseren Vorstellungen anpassen, als könnten wir gegen die Wirklichkeit leben.

Die Geschichte hat uns gezeigt, dass so etwas nie gut ausgeht, es wäre also das Gebot der Stunde, „Ideologiekritik“ zu üben und daraus Maßnahmen für das gesellschaftliche und selbstverständlich auch individuelle Tun abzuleiten. Wie diese Maßnahmen aussehen, muss man im politischen Diskurs miteinander verhandeln.

Doch so läuft das nicht. Im Gegenteil: Gerade jenen, die diese Kritik üben und Maßnahmen einfordern – die „Fridays for Future“-Jugendlichen wollen ja etwas so Konkretes wie Selbstverständliches: dass die einzelnen Länder umsetzen, wozu sie sich im Pariser Klimaabkommen verpflichtet haben – wird „Ideologie“ vorgeworfen. Es ist ziemlich kurios.

Diese Kuriosität jedoch ist absolut nachvollziehbar. Denn kaum etwas nehmen wir so übel wie den Hinweis, wir hätten eine falsche Theorie über die Wirklichkeit. Schließlich kommen gesellschaftliche Theorien, mithin Ideologien, ja nicht aus dem Nichts, sondern folgen in den allermeisten Fällen einem way of life, einer gesellschaftlichen und individuellen Praxis, die, was die Ausbeutung der Naturressourcen betrifft, ganz großartig funktioniert, hat sie doch zu enormen Wohlstandsteigerungen geführt. Stellt sich aber heraus, dass diese Praxis in einer anderen, überaus existentiellen Hinsicht überhaupt nicht funktioniert, dass wir also einem verzerrten Bild von der Realität anhängen, klammern wir uns umso mehr an diesem Bild fest. Anders ausgedrückt: Darauf aufmerksam gemacht, dass wir ideologiegetrieben sind, schlagen wir mit dem ultimativen Vorwurf zurück – dem der Ideologiegetriebenheit.

Die große Zukunftsdebatte der Menschheit wurde also nie und wird auch derzeit nicht rational geführt, und womöglich stoßen wir damit bald so hart an eine Grenze, dass wir uns theoretische Debatten fürs erste ohnehin ganz schenken können. Solange wir aber noch debattieren, sollten wir aus diesem Ideologie-Wirrwarr etwas lernen – etwas, das uns hilft, zumindest unser eigenes Handeln mit dem zu verbinden, was man seit Kants Zeiten als Vernunft bezeichnet.

Das bringt mich zurück zu meinem „konkreten umweltpolitischen Vorschlag“ von damals, nämlich der Limitierung von Fernreisen mit dem Flugzeug. Natürlich weiß ich, dass es, Stand heute, keine demokratische Mehrheit dafür gibt. Und der Vorschlag war auch gar nicht an jene aus dem eher konservativen Spektrum adressiert, die sich so sehr in ihrem way of life eingebunkert haben, dass sie in diesem Leben wohl nicht mehr aus ihrem Bunker herausfinden werden. Sondern ich meinte damit all die gutverdienenden Progressiven, die sich zwar große Sorgen um „den Planeten“ und „die Umwelt“ machen, zugleich aber fröhlich von einem Ort zum anderen jetten. Ich meinte damit, wenn man so will, meine eigenen Leute. Ich meinte damit: mich. Denn da, wo man sich gerade befindet, beginnt jede Ideologie: in einem sich selbst bestätigenden, in sich geschlossenen Milieu, das genau das Gegenteil von dem tut, was es predigt, und damit keine Probleme hat. Aber gleichzeitig endet dort auch jede Ideologie, denn irgendwann tritt dieser Widerspruch offen zutage, und selbst, wenn wir ihn weiter ignorieren – unsere Kinder tun das nicht. Keine Ideologie ist für die Ewigkeit, jede gesellschaftliche Formation hat einen Anfang und ein Ende. Auch unsere. Sich das klarzumachen, ist eine schwere Übung.

Aber glauben Sie mir: Es ist wunderbar befreiend.
 

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