4. Februar 2019 5 Likes

Ich will, dass ihr in Panik geratet!

Greta Thunberg, Immanuel Kant und die Frage, was die Zukunft wert ist

Lesezeit: 7 min.

Was ist denn da los? Ich stehe an einem Freitagvormittag auf dem Münchner Marienplatz und bin umgeben von jungen Leuten, Schülerinnen und Schülern, die selbstgebastelte Plakate mit Aufschriften wie „Klimaschutz statt Kohleschmutz“, „Wir lernen nicht für eine zerstörte Zukunft“ oder „No Nature, No Future“ hochhalten und „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut“ rufen. Es ist eine ziemlich beeindruckende, ja begeisternde Demonstration.

Nun muss man wissen, dass auf dem Münchner Marienplatz vor dem Rathaus praktisch pausenlos demonstriert wird: für oder gegen die Europäische Union, für oder gegen den Islam, für oder gegen die Freiheitskämpfe ferner Völker. Ja, ich meine, dort unlängst auch paar Leute in gelben Warnwesten gesehen zu haben, die sich für Dieselmotoren und gegen ein Tempolimit aussprachen. Sollen sie. Diese Freitagvormittagsdemonstration Hunderter Münchner Schülerinnen und Schüler allerdings war etwas Neues. Nicht nur der Umstand, dass sie um die Uhrzeit eigentlich in der Schule hätten sein müssen, war außergewöhnlich; wirklich sensationell war, dass sie überhaupt demonstrierten.

Denn die Demonstrationen für mehr Anstrengungen in Sachen Klima – oder sagen wir: für tatsächliche Anstrengungen in Sachen Klima –, die unter dem Motto „Fridays for Future“ inzwischen regelmäßig stattfinden und kein rein Münchner, sondern ein weltweites Phänomen sind, unterscheiden sich signifikant von herkömmlichen Protestaktionen betroffener Erwachsener, die ihren Nachwuchs zu einer Demo mitschleppen. Hier sind es nämlich ausschließlich die Jugendlichen, die protestieren – und das wäre auch nicht anders denkbar, denn diese Jugendlichen protestieren nicht mit den Erwachsenen, sie protestieren gegen die Erwachsenen. Oder anders gesagt: Die Zukunft protestiert gegen die Gegenwart.

Insofern ist es auch absolut stimmig, dass die Idee, freitags die Schule zu schwänzen und für das Klima auf die Straße zu gehen, von einer Jugendlichen stammt: Schon seit einigen Monaten stellt sich die Schwedin Greta Thunberg, die gerade sechzehn Jahre alt geworden ist, Woche für Woche vor das Parlament ihres Landes, um die Regierung zu einer klimapolitischen Wende zu bewegen, und inspiriert damit Tausende von anderen Jugendlichen rund um die Welt: in Brüssel, in Sydney, in Montreal, in Berlin, in München.

Was ist da los? Was bringt junge Leute, denen man sonst gerne totales politisches Desinteresse nachsagt, dazu, für ihre Zukunft politisch zu werden? Die Frage beschäftigt mich nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch.

Das Praktische zuerst: Wann immer es mir möglich ist, halte ich an Schulen Vorträge oder organisiere dort Workshops, um die Schülerinnen und Schüler für das Thema „Natur und Umwelt“ zu sensibilisieren. Das ist leider bitter nötig, denn obwohl in der Gesellschaft schon länger über den Klimawandel, das Artensterben, den Plastikmüll und so weiter diskutiert wird, hat sich die deutsche Kultusbürokratie in Lehrpläne eingebunkert, in denen das alles nur eine marginale Rolle spielt; tatsächlich treffe ich nicht selten auf Schüler, die im Unterricht mit alldem gar nicht konfrontiert werden. Diese Tatsache ist von einer niederschmetternden Absurdität, wenn man bedenkt, dass alles, was wir den jungen Menschen an sonst noch Wichtigem beibringen, praktisch nichts wert ist, wenn das Fundament, auf dem es angewandt werden soll – also die ökologische Basis, ohne die die menschliche Zivilisation in der Form, wie wir sie kennen, nicht existieren kann –, wegbricht.

Anfänglich dachte ich noch, dass zumindest die Lehrerinnen und Lehrer diese Absurdität erkennen und im ihnen zur Verfügung stehenden Rahmen die ökologische Krise, in der wir uns befinden, thematisieren, doch da wurde ich eines Besseren belehrt: Bis auf ganz wenige Ausnahmen bin ich nur Pädagogen begegnet, die die „Sache mit der Umwelt“ zwar für „auch wichtig“ halten, im Übrigen aber vor allem daran interessiert sind, die Schülerinnen und Schüler für ihre spätere ökonomische Verwertbarkeit zu ertüchtigen. Nein, die notwendige Veränderung in diesem Bereich, das ist mir klar geworden, kann nur von den Jugendlichen selbst ausgehen, denn auch diese Erfahrung habe ich gemacht: Wenn man mit ihnen spricht, wenn man sie wirklich ernst nimmt, spürt man ein sehr großes Interesse an diesem Thema. (Natürlich nicht bei allen, das ist mir bewusst, und es gibt bestimmt auch einige, die die Freitagsdemonstrationen dazu nutzen, einfach nicht zur Schule zu gehen, aber was soll’s: Keine gesellschaftliche Veränderung hatte je zur Voraussetzung, dass sich alle dafür engagierten.)

Was mich zum theoretischen Aspekt der Angelegenheit bringt. Neben der konkreten Aufforderung an uns, die Erwachsenen, endlich etwas zu unternehmen, werfen die Schülerdemonstrationen nämlich eine grundlegende moralische Frage auf: Welche Verpflichtungen haben wir eigentlich gegenüber den Menschen der Zukunft? Haben wir überhaupt Verpflichtungen ihnen gegenüber? Diese Frage hat sich die Gesellschaft lange nicht gestellt, einfach weil sie keine Notwendigkeit dafür sah: Die Welt nahm eben ihren Lauf, jede Generation hatte ihre jeweiligen Probleme, und im Idealfall hat man sich darum bemüht, dass es die eigenen Kinder einmal „besser“ haben würden. Die Frage wurde insofern nicht als gesellschaftliches, nicht als kollektives, sondern als individuelles Problem gesehen.

Inzwischen sind wir jedoch in einer Situation, in der unsere gegenwärtigen kollektiven Entscheidungen einen womöglich existenziellen Einfluss auf die haben, die in der Zukunft leben werden (ob sie nun schon geboren sind oder noch geboren werden). Misst man also die moralische Signifikanz einer Entscheidung an ihrer zeitlichen Tiefenwirkung und an der Zahl der Menschen, die von dieser Entscheidung betroffen sind, dann sollte man eigentlich meinen, dass es für die Moralphilosophie derzeit kein wichtigeres Problem geben sollte als eben das: Welchen Wert hat die Zukunft, die wir in der Gegenwart erzeugen?

Das ist aber keineswegs so. Wir schieben das Problem von uns weg oder vor uns her und tun so, als wäre es eine Frage, die man mit der bisherigen Moralphilosophie gut in den Griff kriegen könnte: Die Prinzipien, nach denen wir gute Entscheidungen treffen, werden einfach auf die Zukunft appliziert. Eines der bedeutendsten dieser Prinzipien wurde einst von Immanuel Kant formuliert: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Dieser sogenannte kategorische Imperativ ist deshalb so bedeutend, weil er eine universelle Regel etabliert, deren Grundsatz die Universalisierung ist: Wenn ich etwas tun will, muss ich erst fragen, ob ich will, dass es jeder tut.

Nun kenne ich keine Menschen, die bei allem, was sie so tun, erst einmal den kategorischen Imperativ anlegen, aber implizit und jenseits aller Metaphysik hat Kant damit eine moralische Richtlinie etabliert, die tatsächlich funktioniert. Sie hat allerdings einen entscheidenden Schwachpunkt: Mit der Zukunft hat sie nichts am Hut. Wenn es um die Zukunft geht – also um die Menschen, die in der Zukunft leben werden –, versagt der kategorische Imperativ. Denn es kann mir ja egal sein, wenn jeder etwas tut, was eigentlich nicht gut ist, aber in der Gegenwart keine dramatischen Auswirkungen hat (jedenfalls erst einmal nicht für uns hier in den reichen Ländern). Ganz konkret: Industrievertreter, die von der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts nicht allzu viel mitbekommen werden, haben keine moralische Scheu, vor „den hohen Kosten eines verfrühten Kohleausstiegs“ zu warnen. Sollten sie aber.

Ich bin mir sicher, dass bald Heerscharen von Geisteswissenschaftlern an dem Problem, wie man die Zukunft im Kant’schen Sinne universalisieren kann, arbeiten werden (einige arbeiten auch schon daran). Einstweilen bleibt es jedoch einem sechzehnjährigen Mädchen aus Schweden überlassen, uns darauf hinzuweisen, dass wir es hier nicht mit einem rein akademischen Problem zu tun haben, sondern einem handfesten und überaus dringlichen, vielleicht dem dringlichsten überhaupt. Bei einem bemerkenswerten Auftritt auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos sagte Greta Thunberg vor einigen Tagen: „Ich will, dass ihr handelt, als wenn euer Haus brennt, denn das tut es. Erwachsene sagen immer wieder: Wir sind es den jungen Leuten schuldig, ihnen Hoffnung zu geben. Aber ich will eure Hoffnung nicht. Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre.“ Was nichts anderes heißt als: Ihr Erwachsene seid nicht die Zukunft, aber ihr habt das alles angerichtet, also seid ihr für die Zukunft verantwortlich. Reißt euch endlich zusammen! Tut endlich etwas!

Wird das geschehen? Ich weiß es nicht. Etliche Jahre der Beschäftigung mit den Zahlen und Fakten in Sachen Klimawandel und andere ökologische Katastrophen haben mich reichlich ernüchtert und eher pessimistisch gestimmt. Außerdem sind wir inzwischen auch schon wieder einen Nachrichtenzyklus weiter, und Greta Thunberg wird durch die diskursive Mühle gedreht: Rechtsorientierte Zeitgenossen unterstellen ihr, eine Marionette linksglobalistischer Kreise zu sein, und attackieren sie auf zum Teil widerlichste Weise, und Journalisten, die meinen, schon alles gehört und gesehen zu haben, gehen davon aus, dass „der Hype“ um sie ohnehin bald vorbei ist.

Aber vielleicht ist genau das die Wunde, in die Greta Thunberg ihren Finger legt: In der Situation, in der sich die Menschheit gerade befindet, ist „ernüchtert“ oder „pessimistisch“ eine Einstellung, mit der man sich selbst aus dem Spiel nimmt (von den Widerlichkeiten des täglichen Meinungskampfes, über die die Zeit ja sehr schnell hinweggeht, ganz abgesehen). Greta Thunberg und all die anderen Schülerinnen und Schüler rund um die Welt, die freitags auf die Straße gehen, erinnern uns nämlich an etwas, woran wir nicht erinnert werden wollen: dass „Gegenwart“ ein Zustand ist, der eigentlich gar nicht existiert – jetzt ist er schon wieder vorbei, und jetzt schon wieder. Die Jugendlichen haben also jedes Recht, sich nicht weiter mit den Pessimisten und Zynikern jeglicher Couleur zu befassen; und sie haben jedes Recht, darauf hinzuweisen, dass wir die moralische Pflicht haben, etwas für eine Zukunft zu tun, die nichts mit uns zu tun haben wird. Und die schöne Pointe ist: Auch wenn Kants berühmter kategorischer Imperativ die Zukunft ignoriert, berufen sich die Schülerinnen und Schüler letztlich doch auf Kant, dessen noch berühmtere Maxime lautete: „Sapere aude!“ Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Genau diesen Mut stellen die Schülerinnen und Schüler jeden Freitagvormittag unter Beweis.

Und jetzt sind wir dran.
 

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