Zauber und Zerstörung
Eine Reise zu einem Ort, an dem die Zukunft einen anderen Verlauf genommen hat
Inzwischen hat es ja schon eine gewisse Tradition, dass sich meine Kolumne um diese Zeit des Jahres mit dem bevorstehenden Sommerurlaub befasst. Die meisten von Ihnen wissen natürlich längst, wohin sie dieses Jahr fahren werden (vielleicht sind Sie ja auch schon dort oder werden dort gewesen sein, wenn Sie diesen Text lesen). Für alle anderen habe ich folgenden Reisetipp: Steigen Sie in den Zug und fahren Sie nach Warschau. Dann etwa zweihundert Kilometer weiter nach Osten, über Białystok und Hajnówka Richtung weißrussische Grenze, bis Sie einen kleinen Ort namens Białowieża erreichen.
Ich gebe zu, dass ich erst etwas gezögert habe, Białowieża als Reiseziel zu empfehlen, denn ich will auf keinen Fall, dass die Gegend von Touristenscharen heimgesucht wird. Andererseits ist die Wahrscheinlichkeit, dass das geschieht, doch eher gering. Denn Białowieża – wir waren dieses Jahr rund um Pfingsten dort – liegt mitten im Wald, und es gibt nicht viel mehr zu sehen als Bäume. Fichten, Buchen, Eschen, Eichen, Linden, Ahorn – was man eben in einem europäischen Mischwald so findet. Dazu unzählige andere Pflanzen und jede Menge Pilze. Gut, Tiere gibt es dort natürlich auch; in Białowieża kann man Hirsche, Rehe, Wisente, Füchse, Dachse, Luchse, Wölfe, Elche, Eulen, Spechte, Falken und viele weitere (auch viele endemische) Arten beobachten. Aber nur theoretisch, denn die Tiere von Białowieża sind nicht sonderlich daran interessiert, sich Menschen zu zeigen; man muss schon sehr viel Geduld mitbringen, wenn man etwa große Säugetiere sehen will.
Doch die Tiere sind dort, das steht fest, denn der Wald von Białowieża ist ihr Zuhause. Und es ist ein ganz besonderer Wald: Es ist der letzte Primärwald im europäischen Tiefland, ein streng geschützter Nationalpark, dessen Kernzone man nur mit einem Guide betreten darf. Während sämtliche Wälder unseres Kontinents im Laufe der Zeit mindestens einmal vollständig gerodet und dann wieder aufgeforstet wurden, blieb der Wald von Białowieża verschont. Hier, auf etwa 1.500 Quadratkilometern, ist alles noch so, wie es seit eh und je war (wie weit dieses „eh und je“ zurückreicht, weiß man nicht genau, womöglich bis ans Ende der letzten Eiszeit). Hier werden Bäume bis zu vierhundert Jahre alt und ragen bis zu fünfzig Meter in den Himmel, und wenn sie einmal umstürzen, dann wird aus ihnen eine Stätte neuen Lebens.
Dass dieser Ort überhaupt existiert, ist ein Wunder, denn natürlich gab es in der Vergangenheit große Begehrlichkeiten, auch den Wald von Białowieża wirtschaftlich zu nutzen. Aber über etliche Jahrhunderte hinweg war er privilegiertes, der Öffentlichkeit nicht zugängliches Jagdrevier erst der polnischen Könige, dann der russischen Zaren, und im frühen 20. Jahrhundert erkannten Wissenschaftler den außerordentlichen Wert dieses Gebiets: das letzte Stück Natur in Europa, das die Menschen noch nicht nach ihren Vorstellungen geformt und ihren Bedürfnissen unterworfen hatten. (Um exakt zu sein, sollte man allerdings hinzufügen, dass Teile der Megafauna, wie etwa die Wisente, nach dem Zweiten Weltkrieg erst wieder angesiedelt werden mussten.)
Nun will ich nicht allzu klischeehaft oder pathetisch klingen, aber die Kernzone von Białowieża ist einer der magischsten Orte, an denen ich je war. Als würde man eine unsichtbare Grenze überschreiten und einen Raum betreten, in dem die Zeit anderen Regeln folgt. Der Wald von Białowieża ist eine Tiefensonde in eine Vergangenheit, in der Menschen noch nicht das Maß aller Dinge waren, in der andere Geschöpfe – größer als wir, kleiner als wir, allesamt weiser als wir – die Welt gestalteten. Im Herzen dieses Waldes erklingt eine uralte Stille; die Stille, bevor wir kamen. Wer hier keine Demut empfindet, der empfindet vermutlich sonst auch nicht viel.
Die Kernzone von Białowieża ist aber auch ein sehr trauriger Ort. Man hat das Gefühl, ein Museum zu besuchen (oder dieses Zelt in dem Film Soylent Green, wo der letzte Baum New Yorks steht). In Białowieża wird einem bewusst – und man muss es tatsächlich gesehen, gehört, gerochen, gespürt haben, damit einem das bewusst wird –, was wir schon verloren haben und was wir Tag für Tag immer mehr verlieren: Leben. In der öffentlichen Debatte spricht man von „Umwelt“, „natürlichen Ressourcen“ oder „Ökosystemen“, aber letztlich zerstören wir schlicht und einfach Leben, wenn wir Natur zerstören. Leben, das es schon viel länger gibt als uns. Leben, das auf eine Weise funktioniert, die wir gerade einmal beginnen zu begreifen, wenn wir sie überhaupt je begreifen werden. Was tun wir da eigentlich? Was stimmt mit uns nicht? Warum haben wir Menschen (nicht alle Menschen, aber leider die allermeisten) keine Probleme damit, auf dem Planeten Erde eine gigantische Vernichtungsorgie anzurichten?
Man kann zu diesen Fragen viele Bücher lesen, sie füllen ganze Bibliotheken. Aber auch hier bietet sich eine Reise in den Wald von Białowieża an. Denn dort spürt man, was Natur wirklich ist: etwas Unverfügbares. Etwas, das uns nicht gehört. Etwas, von dem wir ein Teil sind, und bestimmt nicht der wichtigste Teil, denn in der Natur gibt es nichts Wichtiges oder Unwichtiges.
Diese Unverfügbarkeit können wir ganz offensichtlich nicht ertragen. Spätestens seit die Moderne ihre dampfmaschinengetriebene Fahrt aufgenommen hat, geht es darum, uns die Welt – und damit auch die Zukunft – verfügbar zu machen. Ja, erst durch diese Verfügbarmachung ist „Welt“ und „Zukunft“ überhaupt etwas Konkretes geworden, etwas, das wir uns aneignen können, das wir kontrollieren wollen. Und so wurde die Zukunft immer mehr zu einem Ort, den es zu erobern galt, und die Welt immer mehr zur Umwelt: zu einer Kulisse für unsere Eroberungsfeldzüge.
Was es allerdings für eine Zivilisation bedeutet, wenn die Welt – die Natur – als reine Kulisse gesehen wird, erlebt man in diesen Jahren und Tagen. Obwohl ständig über „den Planeten“ oder auch „das Klima“ geredet wird, obwohl uns eine alarmierende Nachricht nach der anderen erreicht, geht die Naturzerstörung unaufhörlich weiter. Wir empören uns zwar, aber wir wissen gar nicht genau, worüber wir uns da eigentlich empören. Haben Sie eine persönliche Beziehung zum Klima? Wo sehen Sie Ihren Platz in dem Netzwerk aus Leben, das die Erde durchdringt? All das haben wir aus den Augen verloren. Wir lesen Bestseller über Bäume, aber was ein Baum wirklich ist, verstehen wir nicht. Wir bringen Aufforstungsprogramme als praktische Maßnahme gegen den Klimawandel ins Spiel, aber wir wissen gar nicht, was das wirklich heißt: Wie viel Zeit es braucht, bis so etwas wirksam wird, und welche Folgen es hat, wenn man einen Planeten auf diese Weise zu „managen“ versucht.
Die Natur ist nämlich keine Kulisse. Nicht nur sind wir selbst Natur: „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will“, wie es Albert Schweitzer so wunderbar ausgedrückt hat. Wir werden die Natur auch nie auf eine Weise kontrollieren können, die sie uns ganz und gar verfügbar macht. Das aber scheinen wir nicht begreifen zu können, was unendlich tragisch ist, denn das Leben, das wir Tag für Tag zerstören, wird nie wieder zurückkehren. Irgendwann wird alles ein trüber Spiegel unserer selbst sein.
Und so ist der Wald von Białowieża nicht nur eine Tiefensonde in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. Genauer gesagt: in eine Zukunft, in der sich Menschen entschieden haben, aus der Umwelt wieder eine Welt (oder viele Welten) zu machen. In der sie beschlossen haben, das Unverfügbare, Unkontrollierbare als etwas Bereicherndes, etwas Wertvolles zu betrachten. In der sie verstanden haben, dass der Planet Erde nicht nur ihre Heimat, sondern auch die Heimat zahlloser anderer Lebewesen ist. Ich bezweifle, dass wir, die Menschen des frühen 21. Jahrhunderts, diese zukünftigen Menschen sein werden. Aber vielleicht täusche ich mich ja auch. Schließlich sind Menschen lernende Geschöpfe, und wenn Sie in diesem Sommer (oder auch zu einer anderen Jahreszeit) etwas lernen wollen – über die Natur, über sich selbst, über die Zukunft –, dann sollten Sie sich in den Zug setzen und den Wald von Białowieża besuchen.
Noch gibt es ihn ja.
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Kommentare
Ein inspirierender Text. Auch als Reisetipp sehr wertvoll. Ich werde es zwar nicht nach Polen schaffen, aber die Kolumne teilen und weiterleiten.